Crowdworking: Ständig bereit für 90 Cent Stundenlohn

Wirtschaftskrisen wie in Venezuela führen zu einer neuen Form digitaler Ausbeutung im Dienste der Künstlichen Intelligenz.

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(Bild: Edel Rodriguez)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Karen Hao
  • Andrea Paola Hernández
Inhaltsverzeichnis

Viele gut ausgebildete Menschen müssen sich mit schlecht bezahlten Click-Jobs über Wasser halten. Für wenige Cents beschriften sie beispielsweise Fotos, transkribieren Audioaufnahmen oder taggen Videos. Diese Daten dienen dann dem Training der Algorithmen von Onlineshops, Sprachassistenten oder selbstfahrenden Autos. Die unersättliche Nachfrage nach solchen Diensten hat zu einem großen Bedarf an billigen Clickworkern geführt, wie das Magazin MIT Technology Review in seiner aktuellen Ausgabe 6/2022 berichtet.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich das krisengeschüttelte Venezuela zu einem Hotspot für diese Arbeit entwickelt. Es stürzte genau zu der Zeit in die schlimmste wirtschaftliche Katastrophe, die irgendein Land in den letzten 50 Jahren in Friedenszeiten erlebt hat, als die Nachfrage nach Clickworkern explodierte. Scharen gut ausgebildeter Menschen mit Internetzugang meldeten sich bei Crowdworking-Plattformen an, um zu überleben. Dadurch bekamen die Unternehmen einige der billigsten Arbeitskräfte, die es je gab. "Es gibt ein enormes Machtgefälle", sagt Crowdworking-Forscher Julian Posada, Doktorand an der Uni Toronto. "Die Plattformen entscheiden, wie etwas gemacht wird." Vieles daran erinnert an die Kolonialzeit.

Antreiber waren ausgerechnet Autogiganten alter Schule wie Volkswagen und BMW. Autonome Autos brauchen Millionen bis Milliarden von Trainingsdaten – etwa in Form stundenlanger Videos, bei denen Clickworker sämtliche Straßenmarkierungen, Fahrzeuge, Fußgänger, Bäume oder Mülltonnen markieren.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 6/2022

Was genau hat Künstliche Intelligenz mit Macht, Herrschaft und Kolonialismus zu tun? Dieser Frage gehen wir in der aktuellen Ausgabe nach. Das neue Heft ist ab dem 18.8. im Handel und ab dem 17.8. bequem im heise shop bestellbar. Highlights aus dem Heft:

Lange war Amazons "Mechanical Turk" der dominierende Vermittler solcher Niedriglohnarbeit. Aber als Plattform für Generalisten konnte er keine ausreichende Qualität für sicherheitskritische Anwendungen garantieren. In den frühen 2010er-Jahren entstand deshalb eine neue Generation von spezialisierten Crowdworking-Plattformen wie Appen, Remotask, Hive Micro und Spare5.

Die Bezahlung der Clickworker hängt unter anderem davon ab, wie hoch der Mindestlohn in ihrem Heimatland ist, welche Erfahrung sie bereits haben und wie schnell und genau sie arbeiten. Nach Angaben von Remotask verdienen Clickworker in Venezuela durchschnittlich rund 90 US-Cent pro Stunde. TR hat einen eigenen Account angelegt, um die Aussagen zu überprüfen. Nach zwei Stunden Arbeit, einschließlich Tutorial, lag der Verdienst bei elf Cent.

Bei einigen Plattformen kann das Geld zudem erst abgehoben werden, wenn der Mindestbetrag von 10 Dollar erreicht ist. Das kann Wochen dauern, denn oft sind die gestellten Aufgaben nicht lösbar – etwa, weil die Instruktionen unvollständig sind oder weil Videos wegen technischer Bugs nicht abgespielt werden können. Nutzer klagen zudem über wochen- bis monatelang ausbleibende Zahlungen. Das belegen Screenshots, die TR vorliegen.

"Es ist eine Mischung aus Armut und guter Infrastruktur, die solche Phänomene möglich macht", sagt Crowdworking-Forscher Florian Alexander Schmidt, Professor an der HTW Dresden. "Wenn die Krisen weiterwandern, ist es sehr wahrscheinlich, dass ein anderes Land die Rolle von Venezuela übernimmt." Tatsächlich suchen einige Plattformen bereits gezielt nach noch billigeren Arbeitskräften in Asien, Lateinamerika, Afrika und im arabischen Raum. "Ich denke, sie wissen, dass die Menschen hier Probleme haben", sagt ein Clickworker aus Kenia.

Zu den Menschen, die auf solche Jobs angewiesen sind, gehört die Venezolanerin Oskarina Fuentes Anaya. Sie hat Öl- und Gasingenieurwesen studiert, doch seit dem Wirtschaftseinbruch gibt es in der Ölindustrie keine Arbeitsplätze mehr. Um keine lukrativen Aufträge zu verpassen, geht sie jetzt nur noch am Wochenende spazieren und lässt ihren Computer auch nachts laufen, um sich bei Bedarf wecken zu lassen.

Wer gegen die Arbeitsbedingungen protestiert, läuft Gefahr, gesperrt zu werden. Auch Fuentes ist bei Appen bereits wegen angeblich "unehrlicher Antworten" gesperrt worden. Der Support bestätigte zwar, dass es sich um einen administrativen Fehler gehandelt habe. Dennoch dauerte es Monate, bis ihr Konto wiederhergestellt wurde. Trotz allem ist Fuentes unendlich dankbar: "Ich habe dank dieser Plattform überlebt. Andere Plattformen haben die Zahlungen eingestellt, aber Appen war immer da."

(grh)