Energiekrise: Wo kommt die Energie in Zukunft her?

Seite 3: Und immer wieder Kernkraft

Inhaltsverzeichnis

"Kurzfristig gibt es nur Kohle und Kernkraft", meint auch Svetlana Ikonnikova von der TU München. "Ich kann die Entscheidung zum Atomausstieg verstehen. Aber die deutsche Regierung sollte sie noch einmal überdenken."

Genau das haben Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium Anfang März auch getan. Allerdings kamen sie zu dem Ergebnis, dass eine Laufzeitverlängerung "nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken". Die hohe Abhängigkeit von Gas aus Russland bestehe vor allem im Bereich der Wärmeerzeugung und der Industrie. "Hier spielen Atomkraftwerke aber keine Rolle", so die Ministerien. Und im Stromsektor tragen die verbleibenden drei Kernkraftwerke auch nur zu rund fünf Prozent der deutschen Stromproduktion bei.

Dem steht ein gewaltiger Aufwand für einen Weiterbetrieb gegenüber: Es müssten neue Brennstäbe in Auftrag gegeben werden, was alleine 12 bis 15 Monate dauern würde. Dazu käme noch eine Sicherheitsüberprüfung, die vom Aufwand her mit einer Neugenehmigung zu vergleichen wäre. Und selbst wenn Deutschland sich zu einem Wiedereinstieg in die Kernkraft entschließen sollte – der Bau einer neuen Reaktor-Generation liegt in noch weiterer Ferne.

Ein weiteres Problem: Europa ist nicht nur beim Gas von Russland abhängig. Auch 50 Prozent der importierten Steinkohle, 35 Prozent des Öls und 20 Prozent des Urans stammt von dort.

Dieses Problem haben Erneuerbare Energien – zumindest vordergründig – nicht. "Sie sind unabhängig von politischen Spannungen in jedem Land verfügbar", schreibt der Bundesverband Erneuerbare Energie. Das bringt auch einen ganz neuen, ungewohnten Tonfall in die Energiedebatte. "Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien", verkünden DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner, Energie-Ökonomin Claudia Kemfert und FDP-Chef Christian Lindner wortgleich in seltener Einmütigkeit.

Die Ampel-Koalition will nun beim Ausbau Tempo machen. Bis 2035 soll inländischer Strom nahezu treibhausgasneutral erzeugt werden. Dazu legte Robert Habeck einen Gesetzesentwurf vor, der unter anderem definiert, dass Erneuerbare Energien "im überragenden öffentlichen Interesse liegen und der öffentlichen Sicherheit dienen". Dieser Passus soll die Genehmigung neuer Wind- und Solarparks beschleunigen.

Für Hans-Josef Fell, einen der Väter des Erneuerbaren-Energie-Gesetzes, greifen solche Vorschläge allerdings erst viel zu spät, wie er in einer Kolumne für das PV-Magazine schreibt. Damit der kommende Winter nicht zum "Energiedesaster" werde, fordert er ein "Erneuerbare-Energien-Notgesetz". Es soll unter anderem die Ausbaudeckel abschaffen, eine Sofortgenehmigung für alle Anlagen im Genehmigungsstau erteilen, "länderspezifische Behinderungsregelungen" wie den Mindestabstand von Windkraftanlagen in Bayern und NRW untersagen und Fachkräften aus der Ukraine eine schnelle Arbeitsgenehmigung besorgen.

Doch selbst ein solch rigoroses Durchregieren könnte nicht alle Hindernisse für die Erneuerbaren beseitigen. "Mit dem Aufbau neuer Wind- und Solaranlagen steigt auch der Bedarf an (Edel-)Metallen oder seltenen Erden", warnt Kurt Wagemann, Projektmanager bei der Fachgesellschaft Dechema. Und auch davon stammt ein erheblicher Anteil aus Russland.

Wie man es auch dreht und wendet – überall lauern also neue Abhängigkeiten. Und als sei das alles nicht schon kompliziert genug, gibt es solche schwer zu lösenden Verknüpfungen auch noch innerhalb des eigenen Landes. So liefern viele Gaskraftwerke auch die Wärme für Fernwärmenetze. Entsprechend schwer lassen sie sich ersetzen. "Bis auf Null kriegen wir den Gasverbrauch [im Stromsystem] nicht, wir sind schon fast beim Minimum angelangt", meint Bruno Burger vom Fraunhofer ISE.

Ohnehin ist die Stromerzeugung eines der kleineren Probleme, sollte das Gas knapp werden. Nur 14 Prozent des Erdgases werden hierzulande überhaupt verstromt. Und für Ersatzbrennstoffe wie Kohle gibt es einen liquiden internationalen Markt. Viele Experten fordern deshalb, Gas vor allem für Anwendungen zu reservieren, in denen es sich schlechter ersetzen lässt – nämlich in der Industrie (36 Prozent des Erdgasbedarfs), bei Hausheizungen (30 Prozent), im Gewerbe (12 Prozent) sowie bei der Fernwärme (7 Prozent).

Auch hier rächt es sich nun, dass die sogenannte "Energiewende" von vornherein viel zu stark auf die Stromerzeugung fixiert war und zu wenig auf Wärme, Verkehr und Energiesparen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

"Wir können in einem Jahr nicht aufholen, was wir in den letzten zehn Jahren versäumt haben", meint Michael Sterner von der OTH Regensburg. "Kurzfristig hilft nur Energie sparen, ein Tempolimit oder weniger heizen. Wir müssen jetzt ein ganzes Feuerwerk an Sparideen zünden."

Möglicherweise werden viele Menschen durch die Gaskrise aber noch deutlich rabiater aus ihrer Komfortzone gerissen als durch Corona – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. "Wir sollten der Bevölkerung klar sagen, dass Öl- und Gasheizungen keine Zukunft haben", fordert Bruno Burger vom Fraunhofer ISE. "Und jeder, der sich heute noch ein Auto mit Verbrenner kauft, sollte sich darüber im Klaren sein, dass dieses Auto in ein paar Jahren keinen Wiederverkaufswert mehr hat."

In ihrem offenen Brief im Tagesspiegel warnen die Energieexperten bereits: "Signifikante Komfort-Einschränkungen im nächsten Winter sind denkbar und gegebenenfalls notwendig." Eine Reduktion der Raumtemperatur sei die mit Abstand wirksamste Option für die beiden kommenden Winter, den Verbrauch zu reduzieren. Dafür müsse allerdings die Garantie einer Mindest-Raumtemperatur von 20 bis 22 Grad im Mietrecht geändert werden. Auch für Bürogebäude seien "rechtliche Anforderungen an die maximale Raumtemperatur in Erwägung zu ziehen".

Eine solche Empfehlung taucht auch in einem Szenario der Internationalen Energieagentur (IEA) auf: 10 Milliarden Kubikmeter Gas ließen sich europaweit sparen, wenn die Menschen ihre Thermostate um ein Grad herunterdrehen würden. Die EU-Kommission nennt in ihrem REPowerEU-Programm gar ein Sparpotenzial von 14 Milliarden Kubikmetern. Damit wären kühlere Wohnungen einer der größten Posten nach einem verstärkten LNG-Import.

Selbst wenn sich alle Bürger zuhause brav wärmere Pullover überziehen und die Politik alle übrigen Sparpotenziale zusammenkratzt: Es würde vorne und hinten nicht reichen. Einschließlich Photovoltaik-Ausbau, Wärmepumpen und Biogas kommt die EU bis Ende 2022 auf eine Senkung von 81,5 Milliarden Kubikmetern – etwas mehr als die Hälfte der jährlich aus Russland importierten Menge. (Die IEA kommt mit einem ähnlichen Maßnahmenmix nur auf gut 60 Milliarden Kubikmeter Einsparung.)

Weitere 100 Milliarden Kubikmeter ließen sich, so die EU-Kommission, durch eine vollständige Umsetzung ihres "Fit-for-55"-Programms einsparen – dies allerdings erst bis 2030.