Energiekrise: Wo kommt die Energie in Zukunft her?

Der Ukraine-Krieg krempelt die Energiewende komplett um: Selbst Kompromisse, um die jahrelang gerungen wurde, stehen plötzlich wieder zur Debatte.

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(Bild: MIT Technology Review)

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Inhaltsverzeichnis

Hätten wir mal die Erneuerbaren stärker ausgebaut. Hätten wir uns mal weniger von russischen Rohstoffen abhängig gemacht. Hätten wir mal die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert. Hätten wir mal mehr in Wärmedämmung und Wärmepumpen investiert.

Hätte, hätte, Fahrradkette. Nach Putins Einmarsch in die Ukraine fallen Deutschland zahlreiche Versäumnisse auf die Füße. Erdgas war eine zentrale Stütze der Energiewende, und es kam zur Hälfte aus Russland. Nun gehen die Preise durch die Decke – und die Menschen fragen sich, ob sie demnächst in ihren Häusern frieren müssen. Damit bekommt das Thema Energie für viele eine existenzielle Dringlichkeit, die kein Klimabericht je vermitteln konnte.

Dieser Text stammt aus: Technology Review 3/2022

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Technology Review 3/2022 im heise shop

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Der Krieg in der Ukraine hat ein großes Umdenken bezüglich unserer Energiepolitik ausgelöst. Wir beleuchten, welche kurz-, mittel- und langfristigen Optionen wir haben, um der Abhängigkeit vom russischen Erdgas zu entkommen. Das neue Heft ist ab dem 31.3. im Handel und ab dem 30.3. bequem im heise shop bestellbar. Highlights aus dem Heft:

Deutschland hat jetzt nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera: Jeder weiterhin importierte Kubikmeter trägt dazu bei, den blutigen Krieg in der Ukraine zu finanzieren. Aber alle kurzfristigen Alternativen sind teuer und gefährden die Klimaziele. Wie soll es nun weitergehen?

Die gute Nachricht: Für diesen Winter wäre wohl sogar ein abrupter Lieferstopp verkraftbar. "Die Gasversorgung in Deutschland ist für die kommenden Monate gesichert – selbst ohne weitere Lieferungen aus Russland", versichert Kerstin Andreae, Chefin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, in einer Kolumne für das Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Auch bei der Stromversorgung sind derzeit keine Engpässe absehbar."

Das Aus für die Pipeline Nord Stream 2 kurz nach Kriegsbeginn spielt für die Versorgungssicherheit keine große Rolle. Wichtiger ist nun verflüssigtes Erdgas (LNG), das tiefgekühlt mit großen Tankern verschifft wird. Dadurch ist der LNG-Markt besonders flexibel: Anders als eine feste Pipeline können Tanker das Gas dorthin bringen, wo es gerade die höchsten Preise erzielt. Wer es sich leisten kann, ist also in der Lage, sich LNG auf dem Weltmarkt zusammenzukaufen.

Die schlechte Nachricht: Bleibt russisches Erdgas weiterhin aus, wird es eng. "Gazprom hat die Speicher in diesem Sommer gar nicht aufgefüllt, obwohl das wirtschaftlich vollkommen irrational ist", sagt Michael Sterner, Professor für Energiesysteme an der OTH Regensburg. Das sehen viele als Indiz für eine von langer Hand geplante Kriegsvorbereitung.

Um durch den nächsten Winter zu kommen, müssen die Speicher nun wieder gefüllt werden. Das hat Deutschland bisher den Speicherbetreibern und Gaskonzernen selbst überlassen, statt ihnen rechtliche Vorgaben zu machen: "Viele Länder haben eine strategische Gasreserve, Deutschland bis jetzt nicht", sagt Svetlana Ikonnikova, Professorin für Ressourcen-Ökonomie an der TU München. Um das zu ändern, will die EU-Kommission bis April im Rahmen ihres REPowerEU-Programms ein Gesetz vorschlagen, wonach die Mitgliedsländer alle ihre Gasspeicher bis zum 1. Oktober eines Jahres zu mindestens 90 Prozent füllen müssen.

Auch technisch dürfte es nicht einfach werden, ausbleibendes russisches Gas zu ersetzen. Erdgas-Förderländer wie Norwegen und die Niederlande können ihre Lieferungen kaum noch steigern. Die Einspeisung von Biogas ließe sich zwar noch erhöhen, aber nicht in ausreichendem Maße. Und ob die bestehenden LNG-Terminals in Europa genug Kapazität haben, auch Deutschland mitzuversorgen, ist unsicher.

Deutschland selbst hat den Bau von eigenen LNG-Terminals jahrelang für überflüssig gehalten – es gab ja dicke Pipelines nach Osten. Wenige Tage nach Kriegsbeginn kündigte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nun an, den Bau deutscher Terminals mit Bundesmitteln zu unterstützen. Die plötzliche Kehrtwende ist umstritten: "Stand jetzt sind deutsche LNG-Terminals nicht nötig, um die Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten", schreibt die Deutsche Umwelthilfe (DUH). "Sie würden uns vielmehr über Jahrzehnte an fossile Energien binden."

Ein Soldat begutachtet ein zerstörtes ukrainisches Gasheizwerk in Schytomyr. Die Stadt liegt rund 150 Kilometer westlich von Kiew.

(Bild: picture alliance / EPA / Miguel A. Lopes)

Energieexperten aus dem Umfeld der Beratungsgesellschaft Neon Neue Energieökonomik und der Hertie School halten dagegen: Weitere LNG-Terminals "öffnen Flexibilitätsoptionen, die wertvoll sind, auch wenn sie über ihre Lebenszeit kaum genutzt würden", schreiben sie in einem offenen Brief im Tagesspiegel. "Ihre bloße Existenz mindert das Erpressungspotenzial. Sie sind also eine Versicherung."

Dass sich nun ausgerechnet ein Grünen-Politiker für LNG einsetzt, zeigt auch, wie schnell der Krieg die Prioritäten auf den Kopf stellen kann. Denn für das Klima ist LNG tendenziell ein Schritt in die falsche Richtung: Verflüssigung und Transport von LNG kosten viel Energie; stammt es zudem auch noch aus amerikanischem Fracking-Gas, kommen hohe Treibhausgasemissionen bei der Förderung hinzu. Doch die damit verbundenen Umweltschäden seien unter diesen Umständen "das geringere Übel", so Energie-Ökonomin Claudia Kemfert in einer Kolumne für das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Für den nächsten Winter würden die geplanten LNG-Terminals ohnehin zu spät kommen. Ihr Bau dürfte Schätzungen zufolge drei bis fünf Jahre dauern. Als Lückenbüßer kommt nun die Kohle wieder ins Spiel. "Kurzfristig kann es sein, dass wir vorsichtshalber, um vorbereitet zu sein für das Schlimmste, Kohlekraftwerke in der Reserve halten müssen, vielleicht sogar laufen lassen müssen", sagte Wirtschaftsminister Habeck, dessen Partei lange für einen zügigen Kohleausstieg gekämpft hatte, im Deutschlandfunk. Nun gelte: "Versorgungssicherheit geht vor Klimaschutz."

Selbst ausgewiesene Klimaschützer können sich offenbar damit anfreunden. So sprach sich sogar Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, gegenüber dem Handelsblatt für den verstärkten Einsatz von LNG und Kohle aus. Unterstützt wird er dabei von Bruno Burger vom Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme. "Aktuelle Zahlen zum hohen Methanschlupf in Amerika und Russland legen nahe, dass die CO2-Äquivalente von Steinkohle und Methan ähnlich sind. Deshalb ist es für das Klima fast egal, ob wir Steinkohle oder Erdgas verbrennen. Nur Braunkohle hat noch mal deutlich höhere Emissionen."

In ihrem offenen Brief im Tagesspiegel ergänzen die Experten: "Alle Kohlekraftwerke sind im europäischen Emissionshandel reguliert. Damit ist die Gesamtmenge der Emissionen über die Zeit gedeckelt." Solange die EU nicht wegen der Krise die Obergrenze der erlaubten Emissionen anhebt – was bis Redaktionsschluss nicht ernsthaft zur Debatte stand –, würden die klimapolitischen Ziele auch nicht kompromittiert. Daraus folge allerdings nicht, den für 2030 angepeilten Kohleausstieg wieder infrage zu stellen: "Es besteht keine Notwendigkeit, jetzt über das Jahr 2030 zu diskutieren."

"Kurzfristig gibt es nur Kohle und Kernkraft", meint auch Svetlana Ikonnikova von der TU München. "Ich kann die Entscheidung zum Atomausstieg verstehen. Aber die deutsche Regierung sollte sie noch einmal überdenken."

Genau das haben Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium Anfang März auch getan. Allerdings kamen sie zu dem Ergebnis, dass eine Laufzeitverlängerung "nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken". Die hohe Abhängigkeit von Gas aus Russland bestehe vor allem im Bereich der Wärmeerzeugung und der Industrie. "Hier spielen Atomkraftwerke aber keine Rolle", so die Ministerien. Und im Stromsektor tragen die verbleibenden drei Kernkraftwerke auch nur zu rund fünf Prozent der deutschen Stromproduktion bei.

Dem steht ein gewaltiger Aufwand für einen Weiterbetrieb gegenüber: Es müssten neue Brennstäbe in Auftrag gegeben werden, was alleine 12 bis 15 Monate dauern würde. Dazu käme noch eine Sicherheitsüberprüfung, die vom Aufwand her mit einer Neugenehmigung zu vergleichen wäre. Und selbst wenn Deutschland sich zu einem Wiedereinstieg in die Kernkraft entschließen sollte – der Bau einer neuen Reaktor-Generation liegt in noch weiterer Ferne.

Ein weiteres Problem: Europa ist nicht nur beim Gas von Russland abhängig. Auch 50 Prozent der importierten Steinkohle, 35 Prozent des Öls und 20 Prozent des Urans stammt von dort.

Dieses Problem haben Erneuerbare Energien – zumindest vordergründig – nicht. "Sie sind unabhängig von politischen Spannungen in jedem Land verfügbar", schreibt der Bundesverband Erneuerbare Energie. Das bringt auch einen ganz neuen, ungewohnten Tonfall in die Energiedebatte. "Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien", verkünden DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner, Energie-Ökonomin Claudia Kemfert und FDP-Chef Christian Lindner wortgleich in seltener Einmütigkeit.

Die Ampel-Koalition will nun beim Ausbau Tempo machen. Bis 2035 soll inländischer Strom nahezu treibhausgasneutral erzeugt werden. Dazu legte Robert Habeck einen Gesetzesentwurf vor, der unter anderem definiert, dass Erneuerbare Energien "im überragenden öffentlichen Interesse liegen und der öffentlichen Sicherheit dienen". Dieser Passus soll die Genehmigung neuer Wind- und Solarparks beschleunigen.

Für Hans-Josef Fell, einen der Väter des Erneuerbaren-Energie-Gesetzes, greifen solche Vorschläge allerdings erst viel zu spät, wie er in einer Kolumne für das PV-Magazine schreibt. Damit der kommende Winter nicht zum "Energiedesaster" werde, fordert er ein "Erneuerbare-Energien-Notgesetz". Es soll unter anderem die Ausbaudeckel abschaffen, eine Sofortgenehmigung für alle Anlagen im Genehmigungsstau erteilen, "länderspezifische Behinderungsregelungen" wie den Mindestabstand von Windkraftanlagen in Bayern und NRW untersagen und Fachkräften aus der Ukraine eine schnelle Arbeitsgenehmigung besorgen.

Doch selbst ein solch rigoroses Durchregieren könnte nicht alle Hindernisse für die Erneuerbaren beseitigen. "Mit dem Aufbau neuer Wind- und Solaranlagen steigt auch der Bedarf an (Edel-)Metallen oder seltenen Erden", warnt Kurt Wagemann, Projektmanager bei der Fachgesellschaft Dechema. Und auch davon stammt ein erheblicher Anteil aus Russland.

Wie man es auch dreht und wendet – überall lauern also neue Abhängigkeiten. Und als sei das alles nicht schon kompliziert genug, gibt es solche schwer zu lösenden Verknüpfungen auch noch innerhalb des eigenen Landes. So liefern viele Gaskraftwerke auch die Wärme für Fernwärmenetze. Entsprechend schwer lassen sie sich ersetzen. "Bis auf Null kriegen wir den Gasverbrauch [im Stromsystem] nicht, wir sind schon fast beim Minimum angelangt", meint Bruno Burger vom Fraunhofer ISE.

Ohnehin ist die Stromerzeugung eines der kleineren Probleme, sollte das Gas knapp werden. Nur 14 Prozent des Erdgases werden hierzulande überhaupt verstromt. Und für Ersatzbrennstoffe wie Kohle gibt es einen liquiden internationalen Markt. Viele Experten fordern deshalb, Gas vor allem für Anwendungen zu reservieren, in denen es sich schlechter ersetzen lässt – nämlich in der Industrie (36 Prozent des Erdgasbedarfs), bei Hausheizungen (30 Prozent), im Gewerbe (12 Prozent) sowie bei der Fernwärme (7 Prozent).

Auch hier rächt es sich nun, dass die sogenannte "Energiewende" von vornherein viel zu stark auf die Stromerzeugung fixiert war und zu wenig auf Wärme, Verkehr und Energiesparen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

"Wir können in einem Jahr nicht aufholen, was wir in den letzten zehn Jahren versäumt haben", meint Michael Sterner von der OTH Regensburg. "Kurzfristig hilft nur Energie sparen, ein Tempolimit oder weniger heizen. Wir müssen jetzt ein ganzes Feuerwerk an Sparideen zünden."

Möglicherweise werden viele Menschen durch die Gaskrise aber noch deutlich rabiater aus ihrer Komfortzone gerissen als durch Corona – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. "Wir sollten der Bevölkerung klar sagen, dass Öl- und Gasheizungen keine Zukunft haben", fordert Bruno Burger vom Fraunhofer ISE. "Und jeder, der sich heute noch ein Auto mit Verbrenner kauft, sollte sich darüber im Klaren sein, dass dieses Auto in ein paar Jahren keinen Wiederverkaufswert mehr hat."

In ihrem offenen Brief im Tagesspiegel warnen die Energieexperten bereits: "Signifikante Komfort-Einschränkungen im nächsten Winter sind denkbar und gegebenenfalls notwendig." Eine Reduktion der Raumtemperatur sei die mit Abstand wirksamste Option für die beiden kommenden Winter, den Verbrauch zu reduzieren. Dafür müsse allerdings die Garantie einer Mindest-Raumtemperatur von 20 bis 22 Grad im Mietrecht geändert werden. Auch für Bürogebäude seien "rechtliche Anforderungen an die maximale Raumtemperatur in Erwägung zu ziehen".

Eine solche Empfehlung taucht auch in einem Szenario der Internationalen Energieagentur (IEA) auf: 10 Milliarden Kubikmeter Gas ließen sich europaweit sparen, wenn die Menschen ihre Thermostate um ein Grad herunterdrehen würden. Die EU-Kommission nennt in ihrem REPowerEU-Programm gar ein Sparpotenzial von 14 Milliarden Kubikmetern. Damit wären kühlere Wohnungen einer der größten Posten nach einem verstärkten LNG-Import.

Selbst wenn sich alle Bürger zuhause brav wärmere Pullover überziehen und die Politik alle übrigen Sparpotenziale zusammenkratzt: Es würde vorne und hinten nicht reichen. Einschließlich Photovoltaik-Ausbau, Wärmepumpen und Biogas kommt die EU bis Ende 2022 auf eine Senkung von 81,5 Milliarden Kubikmetern – etwas mehr als die Hälfte der jährlich aus Russland importierten Menge. (Die IEA kommt mit einem ähnlichen Maßnahmenmix nur auf gut 60 Milliarden Kubikmeter Einsparung.)

Weitere 100 Milliarden Kubikmeter ließen sich, so die EU-Kommission, durch eine vollständige Umsetzung ihres "Fit-for-55"-Programms einsparen – dies allerdings erst bis 2030.

Angesichts dieser Zahlen scheint die Aussage ziemlich gewagt, dass Deutschland einen kompletten Ausfall russischer Gaslieferungen aussitzen könnte. Kommt es tatsächlich zu einer Gasknappheit, hätte das Heizen von Privathaushalten und sozialen Einrichtungen Priorität. Notfallpläne sehen vor, dass die Bundesnetzagentur zunächst industrielle Gasverbraucher abschaltet – wenn sie wegen der Kosten nicht schon von sich aus die Produktion herunterfahren.

Das könnte Verwerfungen nach sich ziehen, die weit über die jeweilige Branche hinausgehen. In der chemischen Industrie etwa wird ein großer Teil des Erdgases nicht "energetisch", sondern "stofflich" verwendet – etwa zur Herstellung von Ammoniak, einem Vorprodukt für Mineraldünger. Tatsächlich hat der norwegische Konzern Yara, einer der größten Düngerproduzenten der Welt, wegen der hohen Gaspreise seine Produktion bereits gedrosselt. (Dazu kommt: Auch Kalisalze, ebenfalls wichtig für das Pflanzenwachstum, kommen zu großen Teilen aus Russland.) Die Folge ist absehbar: steigende Lebensmittelpreise.

Theoretisch ließen sich Basischemikalien wie Ammoniak und Methanol auch importieren – idealerweise aus Ländern, in denen reichlich Sonnen- oder Windenergie zu ihrer Herstellung zur Verfügung stehen. "Ja, aber leider nicht rasch", dämpft Kurt Wagemann von der Dechema die Hoffnung. Es würde mehrere Jahre dauern, die nötigen Wind- und Solarparks, die Elektrolyseure, die Anlagen zur Chemieproduktion und die Transportwege zu finanzieren, zu planen und zu bauen – selbst wenn man eine Beschleunigung wie in einer Kriegswirtschaft hinbekäme, verbunden mit entsprechenden Beschleunigungskosten.

Welche Folgen hätte dies für die Volkswirtschaft? Energieexperten der Universitäten Köln und Bonn haben das mit einem Modell durchgerechnet, das berücksichtigt, welche Zwischenprodukte durch Gas erzeugt werden, wie sie innerhalb der Wertschöpfungskette weiterverwendet werden und wie sich welche Produkte ersetzen lassen. Ihr Ergebnis: "Kurzfristig würde ein Stopp der russischen Energieimporte zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,5 und 3 Prozent führen." Zum Vergleich: 2020 brach das BIP wegen der Corona-Pandemie um 4,5 Prozent ein.

Welche Szenarien auch immer eintreten – eines ist jedenfalls absehbar: Es wird und bleibt teuer. Die Gas- und Strompreise werden voraussichtlich bis 2023 hoch bleiben, warnte die EU-Kommission – und das werde auf alle energieintensiven Produkte durchschlagen, einschließlich der Lebensmittel.

Die Autoren des offenen Briefs warnen aber davor, den Preis künstlich zu deckeln: "Ein hoher Gaspreis ist notwendig, um leichter ersetzbare Nachfrage aus dem Markt zu drängen, damit genügend Gas für die schwerer zu ersetzenden Produkte und Anwendungen bleibt. Eine Deckelung von Preisen würde den wichtigsten Anpassungsmechanismus beschädigen, den wir haben."

Karen Pittel, Leiterin des ifo-Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen, sieht das ähnlich: "Grundsätzlich sollten Änderungen an Steuern und Abgaben nur dort vorgenommen werden, wo sie auch ohne die aktuelle Energiepreiskrise sinnvoll sind." Dazu zählt sie die geplante Abschaffung der EEG-Umlage und eine Senkung der Stromsteuer. Dies entlaste ärmere Haushalte, die relativ mehr für Energie ausgeben, und stimuliere die Nutzung von immer grüner werdendem Strom. Am Geld sollte dies nicht scheitern, so Pittel: "Die Mehreinnahmen des Bundes aufgrund der gestiegenen Energiepreise eröffnen hier Spielräume, die entsprechend genutzt werden sollten."

In den Ampel-Plänen zur sozialen Abfederung ist allerdings noch Luft nach oben: Das Wohngeld soll einmalig um 270 Euro für Single- und 350 Euro für Zwei-Personen-Haushalte aufgestockt werden; Studierende und Azubis bekommen 230 Euro. Der Deutsche Mieterbund hält das nicht für ausreichend – schon die Preiserhöhungen für Strom und Gas zum Jahreswechsel, lange vor Beginn des Ukraine-Kriegs, schlagen pro Haushalt mit je rund 1.000 Euro zu Buche.

Für Unternehmen, die unter den hohen Energiepreisen leiden, will Habeck ein zinsbegünstigtes Kreditprogramm der Förderbank KfW auflegen. Solche Beihilfen sind für Regierungen der EU-Mitgliedsländer immer ein Balanceakt, denn die Union legt strenge Regeln an, um einen Subventionswettlauf zu verhindern. Im Rahmen ihres REPowerEU-Programms will die Kommission die Zügel nun etwas lockern – etwa indem sie in Ausnahmefällen "Preisregulierungen" erlaubt oder die Umverteilung der Einnahmen aus Energiesteuer und Emissionshandel an Verbraucher und Unternehmen.

Was das Ganze langfristig für die Energiewende bedeutet, ist schwer abzusehen. Einerseits kommen klimafeindliche Brennstoffe wie Kohle und LNG wieder zu neuen Ehren, die aus guten Gründen längst abgeschrieben waren. Andererseits machen sich Investitionen in Erneuerbare durch die teuren fossilen Brennstoffe eher bezahlt. Welcher Effekt größer ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, ist pessimistisch. Das EU-Klimaschutzpaket Fit for 55 werde so nicht durchsetzbar sein, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Man dürfe Unternehmen angesichts der unsicheren Lage nicht mit zusätzlichen Kosten belasten. "Produktionsstopps könnten breiter und tiefer ausfallen als erwartet" – etwa weil viele kritische Rohstoffe aus Russland kämen.

Das Verlegeschiff Solitaire verlegt die Pipeline Nord Stream 2 in der Ostsee. Sie wird möglicherweise nie gebraucht.

(Bild: Nord Stream / Thomas Eugster)

Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis: Demnach hätte ein Handelsstopp mit Gas einen Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung um knapp drei Prozent zur Folge. Deutschlands Bruttoinlandsprodukt würde hingegen sogar leicht um 0,1 Prozent zunehmen. Der Grund: Die westlichen Verbündeten würden die fehlenden Importe Russlands durch Produkte der Bündnispartner ersetzen. Bei energieintensiven Produkten sei Deutschland besonders wettbewerbsfähig, weil sein Energiemix nur zu relativ geringen Teilen aus russischem Gas bestehe.

Auch DUH-Geschäftsführer Müller-Kraenner sieht in steigenden Energiepreisen keine Gefahr für die Energiewende: "Mangelnde Investitionskraft kann und muss vom Staat ausgeglichen werden. Das bietet gleichzeitig ein enormes Wirtschaftspotential, denn Erneuerbare sind schon heute ein Wachstumsmotor."

Svetlana Ikonnikova von der TU München sieht die Sache differenzierter: "Haushalte und Kleingewerbe werden durch hohe Preise vermutlich eher zu Erneuerbaren wechseln. Bei der Industrie wäre das aber sehr viel teurer, denn sie müssen ihre ganzen Lieferketten ändern, haben weniger Geld für Investitionen und brauchen mehr Hilfe. Die Regierung muss entscheiden, wie sie das organisieren will."

"Langfristig wird sich die Energiekrise positiv auf die Erreichung der Klimaziele auswirken, da die Anreize für Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien steigen", glaubt auch Karen Pittel vom ifo-Zentrum. "Das erfordert aber auch, dass diese Signale nicht an anderer Stelle zunichtegemacht werden. So wird immer wieder gefordert, klimapolitische Maßnahmen in der aktuellen Situation abzuschwächen. Dies würde aber genau das falsche Signal senden."

Eine brauchbare Richtschnur, sich durch all diese Unsicherheiten durchzuhangeln, sind sogenannte "No-regret"-Maßnahmen. Also alles, was man später auf keinen Fall bereuen würde, egal wie es kommt. Wer weiß, vielleicht wird Putin ja in naher Zukunft gestürzt, und Europa hat plötzlich Gas im Überfluss? Auch in einem solchen Fall wäre ein massiver Ausbau der Erneuerbaren keine gestrandete Investition, denn sie würde wegen der Klimaziele ohnehin benötigt. Bei den LNG-Terminals wäre dies der Fall, wenn sie auch für den Import anderer Energieträger wie Wasserstoff oder Ammoniak geeignet wären. Dies ist technisch aber nicht ganz trivial.

Und eine Diversifizierung der internationalen Abhängigkeiten kann ebenfalls nicht schaden. Insofern zeigen einige Dinge in die richtige Richtung. "Das Manhattan-Projekt des letzten Weltkrieges brachte uns die Atombombe. Das Manhattan-Projekt dieses Krieges könnte ein grünes sein", sagte der israelische Historiker Yuval Noah Harari gegenüber dem Spiegel. "Die grüne Energierevolution muss ohnehin kommen, und Putins Krieg könnte sie beschleunigen."

Ähnlich sieht das auch Michael Sterner von der OTH Regensburg: "Vielleicht beschleunigt der Krieg die Energiewende wesentlich schneller als 30 Jahre Klimakonferenzen und zunehmende Wetterkatastrophen", twitterte er Anfang März. "Sad but true."

(lca)