Geese gegen Google: Die EU gegen die mächtigste Suchmaschine der Welt
Seite 2: Der lange weg zum Gesetz
Geese beendet ihre Rede im Parlament mit einem Appell an die EVP, die mächtige Fraktion der Konservativen: "Wenn es heute Abend nicht reicht, dann helfen Sie uns, eine Mehrheit im Plenum im Januar zu organisieren. Denn wir haben es mit dem Digital Services Act schon in der Hand." Für Alexandra Geese und den DSA stehen zwei wichtige Abstimmungen an: Erst wird im IMCO-Ausschuss über die Änderungsanträge der Fraktionen abgestimmt. Dann nimmt das Europa-Parlament den Vorschlag des Ausschusses in einer Abstimmung an. In aller Regel folgt das Parlament den Vorschlägen der Ausschüsse.
Als Geese nach der Debatte den Saal verlässt, steuert eine Frau auf sie zu: Die irische Abgeordnete Frances Fitzgerald, blond, mit dunkelblauem Blazer, goldenen Broschen und einer dunklen Brille, deren Ecken leicht nach oben gezogen sind. Die beiden Frauen begrüßen sich lächelnd, wie alte Kolleginnen. "Interesting, what you just said, I didn’t know …", sagt Fitzgerald. "Yes, you should have a look, the vote is tonight", antwortet Geese aufmunternd.
Fitzgerald und sie haben schon mal zusammengearbeitet, erzählt Geese, während sie mit langen Schritten über das Parkett des Parlamentsgebäudes in Richtung ihres Büros eilt. Das war 2020, während die EU ein 750-Milliarden-Corona-Aufbau-Programm auflegte – 380 Milliarden Euro mehr, als der deutsche Haushalt in diesem Jahr umfasste. Wirtschaftlich hat die Coronakrise Frauen härter getroffen als Männer: In Deutschland haben 19 Prozent der Mütter in der Pandemie ihre Arbeitszeit reduziert, im Vergleich zu nur fünf Prozent der Männer. Trotzdem sollten 80 Prozent des Aufbaufonds an Branchen gehen, in denen vor allem Männer arbeiten. Für Geese inakzeptabel: "Da hat sie als einzige mit unterstützt von der konservativen Seite. Sie is ’ne toughe, ich mag sie."
Freiheit – Digitalität – Schwesternschaft
Die Anekdote mit Fitzgerald zeigt: Das Europäische Parlament ist durchzogen von unterschwelligen Allianzen – und Fehden. Auf dem Weg zu ihrem Büro kommt Geese auch Andreas Schwab mit einer Entourage aus Mitarbeitenden und Journalisten entgegen; ein CDU-Abgeordneter aus Freiburg mit glattrasiertem Gesicht, gut sitzendem Anzug, seit 17 Jahren im Parlament. Im Gehen spricht er ein Interview in ein Mikrofon. Schwab ist einer der einflussreichsten Digitalpolitiker der EVP, einer, der Mehrheiten organisieren kann. Schwab und Geese kennen sich natürlich – aber gehen aneinander vorbei.
Der Weg vom Plenarsaal zu Geeses Büro führt vorbei an den vielen Bistros des Hauses und auf einer Brücke über den Fluss Ill. Man könnte die dunklen Wellen beobachten oder die Schiffe auf Stadtrundfahrt. Aber nur selten bleibt jemand stehen. An der Tür klebt neben Geeses Namensschild ein Sticker mit einem geflügelten Herz und einem Banner mit Nullen und Einsen darauf: Das Symbol von Heart of Code, eines feministischen Hackerkollektivs aus Berlin mit dem Slogan „Liberté – Digitalité – Sœurité“, übersetzt: Freiheit – Digitalität – Schwesternschaft.
Geeses Mitarbeiterin Jana Gooth sitzt am Schreibtisch und schaut auf ein iPad. Die Juristin trägt Pullover und Jeans, die Haare hochgesteckt. Hinter ihr an der Wand lehnt das Longboard, mit dem sie morgens ins Parlament fährt. Geese sind ausgerechnet in der Woche der Ausschussabstimmung alle Kontakte aus dem Handy verschwunden. "Die Währung in der Politik", sagt sie, während sie durch die Nachrichten in ihrem Handy scrollt, über denen jetzt nur Nummern stehen. Zusammen mit Gooth überlegt sie, wem sie für die Abstimmung am Abend noch eine Nachricht schreiben kann.
Als Geese in ihr Büro geht, erklärt Jana Gooth, wie der DSA zustande kommt: Erst lässt die EU-Kommission in einer ihrer Abteilungen einen Entwurf schreiben. Im Binnenmarktausschuss schlagen die Abgeordneten ihre Änderungen vor. Eine Berichterstatterin formt daraus einen mehrheitsfähigen Kompromissvorschlag. Erst stimmt der IMCO-Ausschuss selbst darüber ab, dann, ein paar Wochen später, das Parlament. Danach geht der Gesetzesentwurf in den sogenannten Trilog, in dem Vertreter des Parlaments den Gesetzesentwurf noch mal mit Vertretern und Vertreterinnen der Mitgliedsstaaten verhandeln.
Für die Abgeordneten heißt das: Sie müssen Allianzen schmieden, Deals abschließen. Andreas Schwab von der konservativen EVP ist Berichterstatter für den Digital Markets Act geworden. Christl Schaldemose von der sozialdemokratischen S&D hat den Job als Berichterstatterin für den Digital Services Act bekommen. Wer einen Änderungsantrag zu einem Artikel durchkriegen will, muss den anderen Fraktionen etwas anbieten, was sie dafür bekommen. Manche Regeln sind nirgendwo aufgeschrieben. "Gelebte Praxis", sagt Jana Gooth, lächelt und zuckt mit den Schultern.
Der Moment, auf den Geese wochenlang hingearbeitet hat, in dem der IMCO-Ausschuss über die Änderungsanträge aller Fraktionen zu dem DSA abstimmt, findet remote statt: Geese klickt an ihrem Bildschirm die Änderungsanträge durch, auf einen grünen Button für annehmen, einen gelben Button für Enthaltung und einen roten Button für ablehnen. Dann schnappt sie sich ihre Handtasche und will los zur Frasi, der Fraktionssitzung. "Das war der große Moment", sagt Gooth und schaut Geese an, die schon in der Tür steht. "Ich weiß, wenig feierlich, aber das holen wir nach", sagt Geese, lächelt und geht. Gooth macht das, was auf Social Media ein Shruggie wäre (¯\_()_/¯) – sie zuckt mit den Schultern. Für Gefühle ist keine Zeit. Bis 23:15 Uhr wird Geese an diesem Abend im Parlament bleiben, Anfragen beantworten, Abgeordneten schreiben, Interviews geben.