Gewerkschaften: Die Tech-Branche organisiert sich

Seite 4: "Wir haben täglich Übergriffe. Das ist ein globales Problem."

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Und wer eine Arbeit findet, ist oft anderen Gefahren wie Covid und Überfällen ausgesetzt. "Wir haben zwei Fahrer, die in Nigeria getötet wurden. Ein Fahrer wurde am 17. Februar in London ermordet. Wir haben täglich Übergriffe", sagt Awaad. "Das ist ein globales Problem."

Wollen die Beschäftigten eine Gewerkschaft gründen, betätigen sich viele Unternehmen als "Union Buster": Mit Schikanen und Einschüchterungen versucht die Geschäftsleitung, jegliche Organisation zu verhindern. So geschah es im September beim Essenslieferanten Imperfect Foods und im November bei HelloFresh in Aurora, Colorado. Und als die Belegschaft eines Amazon-Lagers in Alabama im April über die Gründung einer Arbeitnehmervertretung abstimmte, mischte sich das Unternehmen so massiv ein, dass das "National Labor Relations Board" eine Wiederholung der Wahl anordnete. Auch beim zweiten Wahlgang gab es eine knappe Mehrheit gegen eine Gewerkschaft. Allerdings war das Ergebnis zu Redaktionsschluss noch nicht offiziell bestätigt.

Solche Taktiken greifen laut Yonatan Miller von der Berliner Sektion der "Tech Workers Coalition" um sich. "Deutschland hat eine starke Tradition der Sozialpartnerschaft, wo Unternehmen nicht so feindlich gesinnt sind", sagt Miller. "Diese Art von Gewerkschaftsfeindlichkeit ist etwas, das aus den USA importiert wird."

Die "Tech Workers Coalition" ist eine basisdemokratische, ehrenamtlich geführte Organisation mit 21 Sektionen weltweit. Miller wurde 2019 Mitglied und erinnert sich noch gut an das erste Treffen in Berlin-Kreuzberg mit etwa 40 Leuten. "Die meisten von uns waren Neulinge", sagt er. Einige hatten einen arabischen oder muslimischen Hintergrund, andere kamen aus Lateinamerika, Osteuropa und weiteren Teilen Europas.

Die Coalition will eine globale Antwort auf ein globales Problem finden. In den zwei Jahren ihrer Tätigkeit hat die Berliner Sektion schon viele greifbare Ergebnisse erzielt. Sie unterstützte etwa die Beschäftigten des Essenslieferanten Gorillas, Deutschlands erstem Einhorn-Unternehmen, das sich erbittert gegen einen Betriebsrat wehrte. Sie sammelte Geld für eine Amazon-Lagerarbeiterin in Polen, die offenbar wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit entlassen worden war. Und sie organisierte einen Protest vor der Berliner Zentrale von HelloFresh, als die Mitarbeiter versuchten, sich zu organisieren. Darüber hinaus bietet die Coalition Schulungen, Beratung oder Unterstützung an, wobei vieles davon "eher diskret hinter den Kulissen geschieht", so Miller.

In seinen Augen bringen solche Aktivitäten die Tech-Industrie näher an die Standards anderer Branchen heran. Als Vorbild dienen ihm die Aktionen von Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen sowie die Streiks bei Google.

Während der Pandemie war es allerdings kaum noch möglich, sich mit anderen Aktivisten zu treffen. Corona hat den Zugang zu Kneipen und anderen Versammlungsorten abgeschnitten, in denen Klagen zu Ideen und Ideen zu Aktionen werden – und das zu einem Zeitpunkt, als die Branche gerade begonnen hatte, die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Organisierung zu akzeptieren. "Wir haben die moralische Debatte gewonnen", sagt Miller. "Aber wir konnten damit nichts durchsetzen."

Der Wirbel um die Aussagen von Frances Haugen hatte sich noch nicht gelegt, als die beiden ehemaligen Facebook-Mitarbeiter Sahar Massachi und Jeff Allen das "Integrity Institute" gründeten – eine gemeinnützige Organisation, die unabhängige Forschungsergebnisse und Standards veröffentlichen will, um zu verhindern, dass soziale Plattformen Schaden anrichten. Massachi und Allen haben bei Facebook daran gearbeitet, die Plattform sauber und integer zu halten. Jetzt wollten sie die große Frage beantworten, wie sich eine Internetplattform verantwortungsvoll betreiben lässt. "Hoffentlich kommen wir irgendwann an einen Punkt, an dem wir sagen können: Es ist ethisch vertretbar, in der Tech-Branche zu arbeiten", sagt Allen.

Yonatan Miller engagiert sich ehrenamtlich bei der Berliner Sektion der Tech Workers Coalition.

(Bild: Uli Kaufmann)

Massachi und Allen sind keine Whistleblower. Sie achten darauf, ihre NDAs einzuhalten. Aber sie stehen stellvertretend für den Trend, dass ehemalige Big-Tech-Mitarbeiter ihre Expertise nutzen, um Wissen über die Arbeitsweise von Plattformen öffentlich zu machen.

Dazu gehören auch Algorithmen-Ethiker wie Meredith Whittaker. Die KI-Forscherin und ehemalige Google-Mitarbeiterin hatte den Streik von 2018 mitorganisiert. Jetzt berät sie die Federal Trade Commission. Oder Timnit Gebru, ehemalige Co-Leiterin des Ethical-AI-Teams bei Google. Sie wurde im Dezember 2020 entlassen. Ein Jahr später kündigte sie die Gründung des Distributed AI Research Institute an.