Hirnstimulation hilft, flexibler zu denken

Kreisen die Gedanken zwanghaft in immer den gleichen Bahnen, können kleine Stromstöße sie wieder auf die richtige Spur setzen.

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(Bild: agsandrew / Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Sich auf etwas konzentrieren zu können, gilt als Tugend. Doch manchmal sind damit auch pathologische Züge verbunden – etwa, wenn die Gedanken zwanghaft immer wieder um dasselbe Thema kreisen. "Ein Beispiel wäre etwa eine Person mit Depressionen, die einfach in negativen Gedanken 'steckenbleibt'", sagt Alik Widge, Assistenzprofessor für Psychiatrie an der University of Minnesota Medical School. Ähnliches gilt auch für andere psychische Leiden wie Angststörungen oder Suchtverhalten ist.

Eine elektrische Stimulation könnte dem Hirn laut einer US-Studie helfen, aus solchen verhängnisvollen Gedankenkreisläufen wieder herauszufinden. "Weil dies so zentral ist für psychische Krankheiten, könnte es einen mächtigen neuen Behandlungsweg liefern", sagt Widge.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 8/2021

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Dazu untersuchte er gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern vom Massachusetts General Hospital 21 Epilepsie-Patienten. Ihnen wurden während einer OP hunderte kleine Elektroden ins Hirn implantiert, um den Ausgangspunkt ihrer epileptischen Anfälle zu finden. Diese Elektroden nutzten das Forschungsteam, um Teile des Hirns zu beobachten und zu stimulieren.

Als Maßstab für die "kognitive Kontrolle" diente der sogenannte "Multi-Source Interference Task" (MSIT). Dabei geht es um Zahlenaufgaben, die naheliegende oder kontraintuitive Lösungen haben können. Bei Letzteren erfordert es eine erhöhte Selbstkontrolle, sich nicht vorschnell für eine naheliegende Antwort zu entscheiden. Das geht einher mit einer höheren mentalen Belastung, die sich in Form von längeren Reaktionszeiten beim Test sowie erhöhter Aktivität bestimmter Hirnareale messen lässt – etwa im präfrontalen Kortex, der unter anderem für die Handlungsplanung zuständig ist.

Während der MSIT-Tests trainierten die Forschenden eine KI mit den Reaktionszeiten und der Hirnaktivitäten der Probanden. So lernte die KI zu erkennen, wann sich die Gedanken in einer Endlosschleife zu verfangen drohten – und stimulierten dann verschiedene Hirnbereiche mit kurzen elektrischen Impulsen.

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Das Ergebnis: Auf diese Weise ließ sich sowohl die Reaktionszeit als auch die Aktivität des präfrontalen Kortex verringern – und zwar doppelt so wirksam wie bei einer Kontrollgruppe, die nach einem zufälligen Muster stimuliert wurde. Als besonders wirksam erwies sich die Stimulation der "Capsula interna" – ein Nervenbündel in der Großhirnrinde, das unter anderem daran beteiligt ist, zwischen verschiedenen Gedanken- und Handlungsmustern hin und her zu wechseln.

"Das System kann erkennen, wenn ein Patient Schwierigkeiten hat, und ihm mit einem kleinen Stromstoß darüber hinweghelfen", sagt Widge. "Das ist wie bei einem elektrischen Fahrrad, dessen Sensoren merken, wenn jemand Unterstützung braucht."

Einige der Versuchspersonen hatten zusätzlich zu ihrer Epilepsie auch Angststörungen. Sie gaben nach der Stimulation an, sich besser zu fühlen, weil sie ihre Aufmerksamkeit leichter weg von ihrer Angst, hin zu ihrem Ziel lenken konnten. Widge sieht darin eine mögliche Behandlungsmethode für Patienten, die nicht auf Medikamente ansprechen. "Das wäre ein völlig neuer Ansatz. Statt die Symptome zu unterdrücken, könnten wir Patienten ein Werkzeug in die Hand geben, das ihnen die Kontrolle über ihren Geist zurückgibt. Wir holen sie zurück auf den Fahrersitz."

Derzeit bereitet sich das Team auf klinische Versuche vor. Die US-Gesundheitsbehörde FDA habe prinzipiell bereits zugestimmt, so Widge. Bis diese Erkenntnisse allerdings in praktische Anwendungen überführt werden können, seien einige technische und ethische Hürden zu überwinden, heißt es im Paper – etwa die weitverbreiteten gesellschaftlichen Bedenken, solche Techniken könnten die Persönlichkeit oder das "wahre Selbst" verändern – oder ein Wettrüsten bei gesunden Menschen um die höchste Konzentrationsfähigkeit auslösen. Deshalb sollten solche Versuche zunächst nur in klar definierten ethischen Grenzen durchgeführt werden, schreiben die Forschenden in ihrem Paper.

(grh)