Interoperabilität als Regulierungsinstrument für Social-Media-Plattformen

Seite 2: 1. Strukturelle Folgen der Interoperabilitätspflicht im Bereich der Social-Media- und Messenger-Plattformen

Inhaltsverzeichnis

Dem allgemein Verständnis nach wäre eine staatlich verordnete Interoperabilitätspflicht für Plattformen wie Facebook, WhatsApp und Youtube dann erfüllt, wenn bestimmte Daten (beispielsweise Profilinformationen, Beiträge, Kommentare) einer Nutzer:in auf Plattform A von Nutzer:innen auf Plattform B abgerufen werden können und beide interagieren und Nachrichten austauschen können. Die strukturellen Folgen eines solchen regulatorischen Eingriffs lassen sich a) auf einer technischen Ebene, b) aus Sicht der Nutzer:innen und c) auf einer ökonomischen Ebene beschreiben.

a) Technologisch betrachtet verlangt die Interoperabilitätspflicht zwei zentrale Bedingungen von Plattformanbieter: Erstens müssten sie offene Datenschnittstellen bereitstellen, sogenannte Application Programming Interfaces (APIs), an die andere Plattformen andocken können, um einen standardisierten und sicheren Informationsaustausch zu etablieren und Zugang zu freigegebenen Nutzerdaten zu erhalten. Zweitens müssten die abrufbaren Daten in einem bestimmten Format auf Basis eines einheitlichen Standards mit gemeinsamem Vokabular ("Ontologie") bereitgestellt werden, um von anderen Plattformen verstanden und weiterverarbeitet werden zu können ("semantische Interoperabilität"). Dabei ist es entscheidend, dass sich alle Stakeholder auf ein gemeinsames Kommunikationsprotokoll einigen, in welchem die Regeln für den Datenaustausch für alle geforderten interoperablen Social-Media-Funktionen (Text- und Sprachnachrichten, Gruppenchats, öffentliche Beiträge mit Fotos und Videos, Profilinformationen, Likes, Kommentare etc.) spezifiziert werden. Dass dieses Vorgehen technisch machbar und verhältnismäßig ist, belegt das interoperable Social-Media-Netzwerk 'Fediverse' mit mehreren Millionen aktiven Nutzer:innen, das auf dem eigens für soziale Netzwerke entwickelten Standard 'Activity-Pub' basiert. Auch die Möglichkeit einer staatlich verordneten Interoperabilitätspflicht wurde bereits mit der PSD2-Richtlinie der EU von 2015 bewiesen, die Bankkund:innen dazu befähigt, ihre Konten über Finanzplattformen von Drittanbietern zu verwalten.

b) Aus Sicht der Nutzer:innen würde die Interoperabilitätspflicht zunächst keine tiefgreifenden Veränderungen bedeuten. Ihre Kommunikation mit Mitgliedern derselben Plattform bleibt von der neuen technischen Konnektivität unberührt. Jedoch weitet sich der Handlungsspielraum für Nutzer:innen, die zusätzlich bestimmen können, ob ihre Profile und Beiträge auch Nutzer:innen von anderen Plattformen einsehen dürfen. Nutzer:innen, die dazu einwilligen, sind fortan in der Lage plattformübergreifend Nachrichten zu senden und zu empfangen. In diesem Fall würde ein Account auf einer interoperablen Social-Media-Plattform ausreichen, um mit sämtlichen öffentlich auffindbaren Nutzer:innen auf Facebook, WhatsApp, Telegram, Twitter etc. zu kommunizieren – vergleichbar mit der Funktionsweise der E-Mail, bei welcher der E-Mail-Anbieter ebenfalls keine Begrenzung des Empfängerkreises vornimmt. Nutzer:innen erhielten auf diese Weise Wahlfreiheit und könnten sich einen Plattformanbieter ihres Vertrauens aussuchen, der ihre Daten speichert und von dem aus sie Zugang ins interoperable Social-Media- und Messenger-Netzwerk erhalten. In diesem Zuge können interoperable Plattformen auch als Social-Media-Management-Tool dienen, mit denen Nutzer:innen ihre ein- und ausgehenden Datenströme souverän steuern und schützen können: Eingehende Inhalte und Nachrichten können von mehreren Social-Media- und Messenger-Plattformen abgerufen und durch unabhängige Empfehlungsalgorithmen der jeweiligen Plattform gefiltert angezeigt werden. Ausgehenden Nutzerdaten könnten dagegen auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden, sodass lediglich die von den Nutzer:innen autorisierten Daten für den bestimmten Adressatenkreis sichtbar sind. Ein kontinuierliches Tracking des Nutzerverhaltens zu Werbezwecken, wie es etwa auf Facebook stattfindet, kann auf diese Weise unterbunden werden.

c) In ökonomischer Hinsicht birgt die Interoperabilitätspflicht das Potenzial, die Marktmacht der Social-Media-Gatekeeper Facebook und Youtube zu reduzieren und die Entstehung eines neuen Marktes für neue datenschutzfreundliche und auf verschiedene Bedürfnisse optimierte Social-Media- und Messenger-Plattformen zu fördern. So spricht eine ganze Reihe von Gründen dafür, dass die Anbietervielfalt bei Social-Media- und Messenger-Diensten größer und diverser werden wird: Auf Basis des standardisierten Kommunikationsprotokolls wären die technischen Voraussetzungen für die effektive Umsetzung der in DSGVO Art. 20 verankerte Datenportabilität geschaffen, sodass die Wechselkosten für Nutzer:innen zu konkurrierenden Plattformen deutlich reduziert werden können. Zudem würden die starken Netzwerkeffekte, welche in der Plattformökonomie typischerweise eine Konzentration der Nutzer:innen bei wenigen Plattformen bewirken, deutlich reduziert, sodass auch die Marktzugangsbarrieren für kleine Anbieter sinken. Auf diese Weise würde der entwickelnde Interoperabilitätsstandard ein Level-Playing-Field für neue Wettbewerber schaffen, die direkt mit Facebook um die Gunst der Nutzer:innen konkurrieren. Wie stark sich die Anbieterlandschaft tatsächlich diversifizieren wird, hängt jedoch maßgeblich von der Nachfrage der Nutzer:innen nach alternativen Social-Media-Diensten jenseits der One-Size-Fits-All-Lösungen von Facebook, Youtube, Twitter und Co. ab. Einer Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbands zufolge wäre "gut ein Drittel der Nutzer […] bereit den Messenger zu wechseln, wenn Nachrichten zwischen unterschiedlichen Anbietern geteilt werden könnten". Die hohe Nachfrage nach Angebotsvielfalt im Social-Media-Bereich lässt sich auch empirisch daran erkennen, dass in den Jahren 2010 bis 2015, als der Facebook-Messenger interoperabel war, eine Vielzahl sogenannter "Messenger-Clients" von Drittanbietern entwickelt und auf den Markt gebracht wurden. Dennoch ist die Anzahl der Nutzer:innen, die am Ende tatsächlich von den großen Plattformen zu neuen Anbietern wechseln, durch eine ganze Reihe von Faktoren bedingt, die sich im voraus nur schwer einschätzen lassen und stark von der genauen Ausgestaltung der Interoperabilitätspflicht abhängen. So können große Social-Media-Konzerne auch aufgrund ihres privilegierten Zugangs zu Risikokapital stetig neue aufwendige Funktionen und Strategien entwickeln, um Nutzer:innen über Umwege an sich zu binden und die Wechselkosten zu erhöhen.