Kommentar: Warum Videos die Polizeigewalt nicht stoppen

Allgegenwärtige Handykameras sollten Polizei­gewalt verhindern. Die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd hat gezeigt: Diese Hoffnung war falsch.

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Kommentar: Warum Videos die Polizeigewalt nicht stoppen

(Bild: Shutterstock/Cristian Dina)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Ethan Zuckerman
Inhaltsverzeichnis

Die Ermordung George Floyds durch Polizisten in Minneapolis wurde mit Smartphones gefilmt – nicht nur einmal, sondern ein halbes Dutzend Mal. Wir haben Handyaufnahmen von Zeugen, die die Polizisten anflehen, von Floyd abzulassen; die zeigen, wie Derek Chauvin minutenlang sein Knie in den Nacken eines Mannes drücken konnte, der schon nicht mehr bei Bewusstsein war; und wie drei Polizisten währenddessen einfach herumstanden. Zudem trugen alle beteiligten Polizisten Bodycams.

Ethan Zuckermann ist auĂźerordentlicher Professor fĂĽr Public Policy, Kommunikation und Information an der University of Massachusetts. Zuvor war er Direktor des Center for Civic Media am MIT Media Lab.

(Bild: Joi Ito / Flickr "Ethan Zuckerman" / cc-by-2.0)

Keines dieser Videos hat George Floyds Leben gerettet, und es ist möglich, dass keines davon zur Verurteilung seines Mörders führen wird. Chauvin wusste das. In dem Video der 17-jährigen Darnella Frazier sieht man, wie er der Jugendlichen geradewegs in die Augen schaut. Er weiß, dass sie filmt und dieses Video vermutlich auf Facebook im Stream läuft, zum Entsetzen derer, die es sich ansehen. Vor vier Jahren, in einem Vorort von St. Paul, hat der Polizeibeamte Jeronimo Yanez den Afroamerikaner Philando Castile erschossen, während Castiles Lebenspartnerin das Video auf Facebook gestreamt hat. Die an Yanez’ Polizeiwagen angebrachte Dashcam filmte alle sieben Schüsse, die er in Castiles Körper feuerte. Er wurde festgenommen und freigesprochen.

Nach Castiles Tod verfasste ich einen Artikel für die US-Ausgabe von Technology Review und stellte darin das Konzept der "sousveillance" vor. Erfunden hat es Steve Mann, der Vater des tragbaren Computers. Es bedeutet, dass die vielen von Bürgern mitgeführten Kameras als eine Einheit funktionieren könnten, um Menschen in Machtposition zur Rechenschaft zu ziehen. Ich teilte die Hoffnung, dass "die Allgegenwärtigkeit von Handykameras, zusammen mit Videostreaming-Plattformen wie Periscope, YouTube und Facebook Live, das Fundament für Bürger gelegt hat, um Polizisten für exzessive Gewaltausübung zur Verantwortung zu ziehen". Ich lag falsch.

Viele unserer Vorstellungen von Überwachung stammen vom französischen Philosophen Michel Foucault. Foucault beschäftigte sich mit den Ideen des englischen Reformers Jeremy Bentham, dem ein Gefängnis vorschwebte – das Panoptikum. Jede seiner Zellen ließ sich von einem zentralen Wachturm aus beobachten. Die permanente Möglichkeit einer Beobachtung würde ausreichen, glaubte Bentham, um Fehlverhalten von Gefangenen zu verhindern. Foucault analysierte, dass dieses Wissen um die eigene Beobachtung den Menschen dazu bringt, sich selbst zu kontrollieren. Dieser Akt der Selbstdisziplinierung wirkt noch stärker als die Androhung behördlicher Strafen, und er ist ein primärer Mechanismus von "politischer Technologie" und Macht in unserer modernen Gesellschaft.

Die Hoffnung, die mit "sousveillance" verbunden wird, gründet auf der gleichen Logik: Wenn Polizisten wissen, dass sie beobachtet werden, dann werden sie sich disziplinieren und unnötige Gewalt unterlassen. Doch in der Praxis hat sie nicht funktioniert. Im Rahmen einer groß angelegten Studie aus dem Jahr 2017, durchgeführt vom Bürgermeisteramt in Washington, D.C., erhielten mehr als tausend Polizisten eines Bezirks Bodycams, und mehr als tausend erhielten keine. Die Forscher hofften auf Belege dafür, dass das Tragen von Kameras mit einer besseren Amtsausübung verbunden sei, einem geringeren Einsatz von Gewalt und mit weniger Bürgerbeschwerden.

Doch nichts wies darauf hin: Der Verhaltensunterschied zwischen den Polizistengruppen war statistisch nicht signifikant. Eine weitere Studie analysierte die Ergebnisse von zehn randomisierten Versuchsreihen zum Einsatz von Bodycams. Sie trug den vielsagenden Titel: "Das Tragen von Bodycams erhöht die Wahrscheinlichkeit für Polizisten, attackiert zu werden, verringert aber nicht ihre eigene Gewaltausübung".

TR 8/2020

In Reaktion auf die Washingtoner Studie hofften einige Forscher, dass das Filmen zumindest dabei hilft, Polizisten nach gewalttätigen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch hier bringen Bodycams selten den erhofften Nutzen. Während sorgfältige Bild-für-Bild-Analysen der Videos häufig beweisen, dass Opfer von Polizisten unbewaffnet waren und dass Beamte harmlose Gegenstände irrtümlicherweise für Waffen hielten, spielen amerikanische Strafverteidiger die Videos in Normalgeschwindigkeit ab, um darzustellen, wie angespannt, schnell und erschreckend die Konfrontationen zwischen Polizisten und Verdächtigen sein können. 1989 entschied der U.S. Supreme Court, dass Polizeibeamte tödliche Gewalt ausüben dürfen, wenn sie eine "objektive, begründete" Angst um ihr Leben und ihre Sicherheit haben. Videos von Bodycams und Handyvideos von Zeugen dienen dem Argument der "begründeten Angst" genauso wie der Überführung von Polizeibeamten.

Bilder sind kraftvoll, Macht aber auch. Benthams Panoptikum ist effektiv, weil der Gefängniswächter die Macht zur Bestrafung hat, wenn er Fehlverhalten beobachtet. Doch Benthams andere Hoffnung für das Panoptikum – dass auch das Verhalten des Wächters transparent sei und von allen, die es sehen, beurteilt würde – wurde nie real umgesetzt. In zehn Jahren, von 2005 bis 2014, wurden nur 48 US-Beamte, die im Einsatz tödliche Gewalt angewendet haben, mit Mord oder Totschlag angeklagt. Dabei werden in den USA mehr als 1000 Menschen im Jahr von der Polizei getötet.

Chauvin wusste das, als er die Handyfilmerin Darnella Frazier ansah, denn das tut jeder, der in der Strafverfolgung arbeitet. Die Institutionen, die Polizeibeamte davor schützen, rechtliche Verantwortung für ihr Handeln zu tragen – Abteilungen für interne Angelegenheiten, Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst, Polizeigewerkschaften – funktionieren sehr viel besser als die Institutionen, die sie für Missbrauch zur Rechenschaft ziehen.

Die Hoffnung, dass überall vorhandene Kamerapräsenz allein den systemischen Rassismus aushebeln könnte, hat sich als eine techno-utopische Fantasie herausgestellt. Der Irrtum war, dass Polizeibrutalität ein Problem fehlender Information ist. Doch Information kann nur dann problemlösend wirken, wenn sie mit Macht versehen wird.

Eine Kraft aber haben die Bilder von Polizeibrutalität offenbar: Sie schockieren, erregen und mobilisieren Menschen, nach einem Systemwechsel zu verlangen. Das allein ist Grund genug weiterzufilmen.

(rot)