Natur machen lassen: Was passiert in Deutschlands einzigem Rewilding-Projekt?

Seite 5: Die Vermessung der Wildheit

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Was am Oder-Delta geschieht, ist, wenn man die gesamte Rewilding-Szene betrachtet, eigentlich "Rewilding light". Die Gegend ist dünn besiedelt, offen, strukturell wenig verändert und die Schlüsselarten sind entweder schon da oder in der Nähe. "In England, wo ich herkomme, gibt es Gebiete, in denen wäre ein Rewilding-Konzept nach dem Oder-Delta-Prinzip unmöglich. Allein schon, weil es so viele Zäune gibt, dass Schlüsselarten gar keine Chance hätten, sich zu verbreiten", sagt Biodiversitätsforscherin Josiane Segar. "Schlüsselarten müssten zudem erst einmal angesiedelt werden – Großbritannien ist eine Insel. Da müsste zwingend in das Ökosystem eingegriffen werden, bevor man es sich selbst überlassen könnte." Sprich: Die Voraussetzungen für Rewilding sind überall unterschiedlich. Das macht Rewilding schwer vergleichbar und den Erfolg noch schwerer messbar. Soll sich so ein Konzept als Joker für Biodiversität und Klimaschutz durchsetzen, sind messbare Parameter jedoch ein Muss – und diese hat Segar im letzten Jahr entwickelt. "Wir haben ein Rahmenwerk aufgebaut, das es uns möglich macht, den Erfolg von Rewilding-Projekten zu quantifizieren", erzählt sie.

Ein Pfeiler dieser Quantifizierung ist die Auswertung von Satellitendaten über einen Zeitraum von zehn Jahren. Ist die Region grüner geworden, wie haben sich Flussläufe verändert, wachsen Bäume? Diese "spontane Regeneration" sei auf Satellitenbildern gut zu erkennen. Der zweite Pfeiler ist ein Dialogprozess mit Experten, die unterschiedliche Indikatoren bewerten. "Um den Bias durch die Experten zu minimieren, haben wir ein mehrstufiges iteratives, partizipatives Verfahren entwickelt, das am Ende zu einer Kennzahl zwischen Null und Eins führt", sagt Segar. Eins steht für maximale Wildheit. Sieben Rewilding-Gebiete, die alle zu Rewilding Europe gehören, haben Segar und ihre Kollegen bewertet. Die Spanne der Entwicklung über die letzten zehn Jahre reicht von 47,1-prozentiger Wildnis-Steigerung in den italienischen Zentral-Apenninen bis zu einer Verschlechterung von 13 Prozent in den bulgarischen Rhodopen oder 6,7 Prozent im kroatischen Velebit.

"Der Grund für den großen Erfolg in den Zentral-Apenninen liegt darin, dass die Ausgangslage relativ schlecht war, die Menschen vor Ort das Rewilding jedoch als attraktiven sozioökologischen Prozess betrachtet haben", hat Segar festgestellt. Die Menschen waren schlicht begeistert, konnten politisch schnell Verbesserungen auf den Weg bringen und NGOs für das Rewilding gewinnen. Zudem ist das Gebiet sehr groß und große Flächen sind im Rewilding per se ein Vorteil. In den Rhodopen hingegen hat sich im Bewertungszeitraum die Landwirtschaft intensiviert – gefördert durch die EU-Agrarpolitik – und damit das Gebiet für die Natur verkleinert. Im Velebit hingegen waren die Menschen in der Region gegen die Rewilding-Maßnahmen. "Jedes Mal, wenn eine neue Schlüsselart in die Region gebracht wurde, wurde sie umgehend erschossen. Die Rewilding-Gruppe konnte kein Vertrauen aufbauen, die Leute fühlen sich bedroht."

Aus den Erfahrungen, die in den Rewilding-Europe-Projekten über die Jahre gesammelt wurden, hat Segar einen Katalog aus Erfolgsfaktoren und Gefahren abgeleitet: Erfolg versprechen die Bekanntheit des Projektes und eine naturbasierte Wirtschaft in der Region. Nachweise, dass das Konzept funktioniert, sind ebenso hilfreich wie das Management unterschiedlicher Tierspezies und aktives Konfliktmanagement in der Bevölkerung. Die Risiken sind die üblichen Gefahren für die Natur: Mensch-Wildtier-Konflikte, Gesetze, aktives Land- und Wassermanagement, Änderungen in der Landnutzung, Verschmutzung und biologischer Druck – etwa durch invasive Arten.

Durch die umsichtige Politik von ROD hat sich der Verein bereits eine Verbesserung von 14,9 Prozent im Rewilding Score des iDiv erarbeitet. Eine der Gefahren für das Projekt hat Peter Torkler gerade im Rücken. Er steht an einem Steilhang mitten im polnischen Wald. Der Blick ist spektakulär. Zu seinen Füßen liegt der Schlosssee. Die deutsch-polnische Grenze führt mitten durch den See. Die deutsche Seite vor ihm ist Naturschutzgebiet, die Gottesheide. In seinem Rücken: polnischer Fichten-Nutzwald.

Im Peenetal brüten mehr Seeadler als sonst irgendwo in Europa. Sie sind eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Region.

(Bild: Staffan Widstrand / Rewilding Europe)

Fährt man durch die Wälder über die deutsch-polnische Grenze, fallen zwei Dinge auf: Statt vielfältiger Wälder mit Unterbewuchs stehen die Fichten in Polen kilometerlang in Reih und Glied und warten auf die Ernte. Und entlang der Grenze verläuft ein hoher Wildzaun, der Polen vor einwandernden, mit Schweinepest infizierten Wildschweinen schützen soll. Ein Zaun, der durch das gesamte Rewilding-Gebiet verläuft. Naturschutz sei in Polen mit der derzeitigen Regierung ein schwieriges Thema, erzählt Torkler. Häufig scheitern kleinere Projekte an den Strukturen. Behörden reichen Entscheidungen in der Hierarchie immer weiter nach oben, bis sie in Sphären ankommen, in denen sich niemand mehr für den Umwelt-Kleinkram interessiert.

Dabei sind die Wälder auf polnischer Seite so weitläufig, dass sie gar nicht vollständig genutzt werden können. Und sie sind so wertvoll, strukturreich mit Moorlinsen durchsetzt, die in der Eiszeit entstanden sind, dass sie für den Erfolg des Rewilding unabdingbar sind. Im Sommer werde er eine Europa-Abgeordnete auf einer Rundfahrt betreuen, erzählt Torkler. Sie mache hier eine Sommerreise. Torkler hat 15 Jahre lang Lobbyarbeit für den WWF in Brüssel betrieben, bevor er ans Oder-Delta kam. Eigentlich habe er genug von dem politischen Geschäft, sei hergekommen, um praktisch etwas zu bewirken, zu sehen, wie seine Arbeit der Natur helfe, sich zu entwickeln. Aber manchmal gehe es eben nicht, ohne Themen auf politischer Ebene präsent zu machen, seufzt er leise.

(jsc)