Natur machen lassen: Was passiert in Deutschlands einzigem Rewilding-Projekt?
Fast 200 Staaten treffen sich derzeit auf der "Weltnaturkonferenz" in Montréal – und reden. Kann das Konzept des Rewilding gegen das Artensterben helfen?
Ein Abkommen nach dem Vorbild der Pariser Klima-Vereinbarung soll auf der aktuell stattfindenden Weltnaturschutzkonferenz, der "Convention on Biological Diversity" der UN, getroffen werden. Eines der Ziele soll es sein, bis zum Jahr 2030 mindestens 30 Prozent der Fläche der Erde unter Schutz zu stellen – Land- als auch Seefläche. Doch auch das Konzept der abgegrenzten Schutzgebiete hat seine Tücken. Menschen wie Peter Torkler vertreten im Unterschied dazu das Prinzip des "Rewilding". Sein Revier ist das Oder-Delta.
Anlässlich der Weltnaturschutzkonferenz in Kanada vom 7. bis 19. Dezember veröffentlichen wir täglich einen der insgesamt sieben Texte des Heft-Schwerpunktes zur Biodiversität von MIT Technology Review hier frei lesbar (die Ausgabe erschien im Juli 2022). Die Artikel beschäftigen sich mit Lösungsansätzen, was es braucht, um die Biodiversität unserer Erde zu schützen.
- Unsere letzte Chance: Was gegen das Artensterben hilft
- Natur machen lassen: Was passiert in Deutschlands einzigem Rewilding-Projekt?
- Buche, Eiche, Lärche: Die gute Mischung für einen klimatoleranten Forst
- Wie bedeutsam Mikroorganismen für die Biodiversität sind
- Ă–kosystem Meer: Wie das Meer Nahrungsmittelquelle und COâ‚‚-Senke bleiben kann
- Was wiederbelebte Mammuts fĂĽr den Arten- und Klimaschutz bringen
- Aufforstung: Wie Mangroven Senegals Zukunft sichern sollen
"Ich glaube, wir müssen hier durch", übernimmt Peter Torkler die Führung der kleinen Gruppe in das Unterholz auf dem Truppenübungsplatz Jägerbrück. Sie sind zu viert – zwei Mitarbeiter der zuständigen Wasserschutzbehörde, ein Planer mit GPS-Vermessungsgerät in der Hand und Peter Torkler – einer der zwei Geschäftsführer von Rewilding Oder Delta (ROD). Einer der Männer prüft mit grimmigem Gesicht die langen Grashalme im Unterholz des Waldes und schimpft auf die Zecken. Torkler schimpft nicht, er steckt sich die Hosenbeine in die Socken.
Die Autos parken am Rand des holperigen Waldweges. Unmittelbar daneben geht es ein, zwei Meter tief runter in ein trübes, unscheinbares Wasserloch, das ins Unterholz ausläuft. Dieses Wasser ist der Grund für die Waldbegehung. Es ist der Überrest eines Baches, der sich früher durch den Wald geschlängelt hat. Vor vielen Jahren – niemand weiß mehr, wann und weshalb – ist er auf 600 Metern Länge in Betonrohre im Untergrund eingesperrt worden.
Die Wasserschutzbehörde überwacht sämtliche Gewässer ihres Zuständigkeitsbereichs – auch diesen kleinen Bach – und ist mit den biologischen Kennzahlen des Wassers nicht zufrieden. Er müsste aus seinem Betonrohr befreit und renaturiert werden, um sich zu regenerieren – nur hat die Behörde auf absehbare Zeit keine Mittel dafür. Rewilding Oder Delta hat sie. Im vergangenen Jahr ist dem Verein ein Scheck über eine Million Euro von der Deutschen Postcode-Lotterie überreicht worden: Der Traumtaler, den ROD für den Schutz und die Wiederherstellung einzigartiger naturnaher Lebensräume verwenden soll.
Das Oder-Delta ist einziges Rewilding-Projekt in Deutschland
Rewilding hat sich zu einem Modebegriff entwickelt, der den Nerv der klimagebeutelten und an Biodiversität verarmenden Welt trifft. Einheitlich definiert ist der Begriff jedoch nicht: Rewilding kann im Garten stattfinden, wenn der Rasen nicht mehr gemäht und Äste und Steine zu Haufen aufgeschichtet werden. Rewilding kann der Pleistozän-Park in Sibirien sein, in dem Nikita und Sergey Zimov versuchen, die Arktis wieder in eine Steppe zu verwandeln, indem sie mit Megaherbivoren die Verbuschung zurückdrängen und den Boden verdichten wollen. Dafür haben sie in einem geschlossenen Gebiet eine bunte Mischung aus Tieren angesiedelt – Kamele, Bisons, Moschusochsen, Rinder, Rentiere, Elche, Ziegen, Pferde, Schafe, Yaks und Wisente – in der Hoffnung, das Klimagas Methan im arktischen Boden zu halten.
Häufig wird Rewilding mit dem Einführen großer Pflanzenfresser in Gebiete verknüpft, wie etwa im niederländischen Oostervarderplassen, das 2018 zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, als in dem eingezäunten Areal in dem harten Winter gut sichtbar massenhaft Tiere verendet sind. Das hat für Unmut in der Bevölkerung gesorgt und die Rewilding-Idee viel Akzeptanz in der Region gekostet.
Das Gebiet, in dem ROD die Wildnis voranbringen möchte, ist ein Mix aus traditionellen Schutzgebieten und ungeschützter, dünn besiedelter Kulturlandschaft. Es ist das einzige Rewilding-Projekt in Deutschland unter dem Dach von Rewilding Europe. Die Organisation vereint derzeit neun Rewilding-Gebiete in ganz Europa. Die Idee ist, der Natur in möglichst großen zusammenhängenden Landschaftskomplexen Raum für Wildheit zu geben.