Missing Link: China, Hongkong und der Westen – Schlacht der Narrative

Seite 3: "Überschätzen China als technologische Supermacht"

Inhaltsverzeichnis

Das Bild des Reichs der Mitte im Westen changierte immer wieder zwischen Bewunderung und der Angst vor der "gelben Gefahr". Es werde aktuell zusätzlich dadurch getrübt, "dass wir unsere Ängste rund um Technologien" wie KI, Big Data und Social Scoring "auf China projizieren", meint der italienische Journalist Simone Pieranni. Lange Zeit sei von der Fabrik der Welt die Rede gewesen, in der vor allem Nachahmungen ohne hohe Qualität und Innovationsgrad massenhaft hergestellt würden. Spätestens mit der Super-App WeChat sowie dem Streben Pekings nach digitaler Souveränität und Überlegenheit habe sich dieses Image ins Gegenteil gekehrt: "Wir überschätzen China jetzt als technologische Supermacht."

Die Hoffnung, dass nach Kapitalismus und Reichtum wenigstens das Internet Demokratie ins Reich der Mitte bringt, sieht der Autor des Buchs "Das neue China" ebenfalls zerronnen. Die digitale Technik werde dort vor allem für Smart-City-Projekte eingesetzt, von denen über 600 am Start seien. Peking wolle damit beim autonomen Fahren sowie im Kampf gegen Luftverschmutzung eine Führungsrolle einnehmen, aber eben auch bei der "sozialen Kontrolle".

Mit der Macht der zunächst geförderten chinesischen Internetplattformen fühle sich die KP zugleich zunehmend unwohl, weiß Pieranni. Der momentane Tech-Crackdown solle diese Firmen daher umfassend regulieren. Der Partei sei etwa nicht entgangen, dass Angestellte mit dem lange Zeit üblichen, mittlerweile vom Verfassungsgericht eingeschränkten System des 996-Arbeitsstundenmodells (von 9 bis 21 Uhr, sechs Tage pro Woche) unzufrieden gewesen seien. Zudem seien die Plattformen der KP zu stark geworden, hätten sie doch mit ihren Datenpfründen "auch Meinungen prägen und ein anderes Narrativ setzen können".

"Die inneren Angelegenheiten sind das Wichtigste für die KP", sagt Pieranni. Sie müsse eine gewisse Stabilität durch Wachstum erhalten, während China zugleich weitgehend isoliert sei in der internationalen Gemeinschaft. Das Land habe etwa aufgrund der US-Sanktionen ein "großes Problem mit Halbleitern und Chips".

Internationalen Einfluss versucht sich die chinesische Führung mit der Neuen Seidenstraße ("Belt and Road"-Initiative) zu erkaufen. Diese sei 2013 erstmals benannt und 2017 sogar in die Verfassung geschrieben worden, legt Filip Noubel, Chefredakteur des tschechischen Online-Magazins "Global Voices", dar. Dabei handle es sich nicht nur um ein wirtschaftliches Programm, sondern um einen "Ersatz der chinesischen Außenpolitik".

Lange Zeit habe in Peking das Motto gelautet, sich in globale Angelegenheiten nicht einzumischen, führt Noubel aus. Jetzt gebe es den Traum von einem "chinesischen Jahrhundert" mit einer weltweiten Einflussnahme. Die Neue Seidenstraße biete aber nicht nur Erfolgsgeschichten. Ein Grund dafür sei, dass Peking die eigenen politischen Richtlinien und die Kommunikationsstrategie nicht an unterschiedliche ausländische Umgebungen anpasse. Als Supermacht sei das Reich der Mitte "sehr sichtbar" geworden und müsse lernen, mit Kritik umzugehen und darauf zu reagieren.

"Global Voices" hat jüngst eine Online-Datenbank eingerichtet, in der die Reporter Artikel, Berichte von Denkfabrik, YouTube-Songs, Tweets, andere Postings, Podcasts, Videos, Gedichte und offizielle Erklärungen rund um die Neue Seidenstraße in über 15 Sprachen sammeln. Sichtbar wird damit etwa, dass die Initiative in Ungarn und Venezuela großen Anklang gefunden hat und von den Eliten dieser Länder unterstützt wird. Traditionelle Medien berichten dort kaum noch kritisch über China. Erst im Dezember unterzeichnete ferner der autoritäre Belarus-Führer Alexander Lukaschenko ein Abkommen mit Peking für Kooperationen in den Bereichen Seidenstraße, Militär und Technik.