Missing Link: China, Hongkong und der Westen – Schlacht der Narrative

Peking wickelt Hongkong demokratietechnisch ab. Hält der Westen die Menschenrechte höher und hat er zu lange naiv geglaubt, China werde sich öffnen?

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(Bild: muhammadtoqeer/Shutterstock.com)

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Eigentlich soll für Hongkong und China gelten: "Ein Land, zwei Systeme". Die Formel stand im Zeichen eines Kompromisses im Streit zwischen der britischen Verwaltungsmacht und Peking. Die chinesische Seite verpflichtete sich damit, die liberale, kapitalistische Gesellschaftsordnung mit Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit für 50 Jahre nach der Mitte 1997 vollzogenen Rückübertragung fortbestehen zu lassen. Davon ist nach knapp der Halbzeit der Dauer der Zusage aber kaum noch etwas zu spüren.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Nach dem Niederschlagen der "Regenschirm-Revolution" und weiterer Protestbewegungen sowie dem Erlass des "Sicherheitsgesetzes" vor anderthalb Jahren geht die kommunistische Führung in Peking vehement gegen verbliebene Kritiker und ihre Aktivitäten in Hongkong vor, die im Festlandchina als subversiv, separatistisch, terroristisch oder verschwörerisch gelten. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht unabhängige Zeitungen und Online-Medien wie "Apple Daily", "Stand News" oder zuletzt "Citizen News" die Segel streichen.

Politische Aktivisten sind entweder im Gefängnis gelandet oder ins Exil gegangen. Von dort aus versuchen sie, die Geschicke Hongkongs doch noch zu wandeln und die turbulenten Geschehnisse der vergangenen zehn Jahre aufzuarbeiten. Die Widerstandsbewegung habe lange die Doktrin "keine Gewalt" hochgehalten, erklärte Ray Wong, Gründer der 2015 gegründeten politischen Gruppe "Hong Kong Indigenous" im Herbst auf der hybrid abgehaltenen Konferenz "Powers of Truth: China, Tech, Art & Resistance" des Disruption Network Lab in Berlin. Diese Linie sei aber zunehmend gefährlich geworden: "Wir konnten die Regierung nicht beeindrucken, unser eigenes Lager aber auch nicht zufriedenstellen."

Wong erhielt als einer der ersten Oppositionellen aus Hongkong Asyl in Europa und lebt mittlerweile in Deutschland. Für ihn steht fest: Unter der Kommunistischen Partei (KP) Chinas "ist es unmöglich, die Demokratie in Hongkong aufrechtzuerhalten". Er warf dem Westen vor, zu lange der "Lüge" von der Öffnung und Liberalisierung Chinas unter dem Einfluss der Sonderverwaltungszone und der restlichen Welt angehangen zu sein. Vor dem aktuellen Staatschef Xi Jinping habe es zwar kurzzeitig entsprechende Anzeichen gegeben. Doch dann sei "ein drastischer Wandel" erfolgt.

Gut 50 zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Demokratie einsetzten, hat die chinesische Führung inzwischen in Hongkong verboten oder zum Aufgeben gezwungen. Dazu kam das scharfe Vorgehen gegen Minoritäten in den autonomen Regionen Xinjiang und Tibet, womit lokale Kulturen insgesamt unterdrückt werden. Die Bewegung in Hongkong sei dadurch "in ein Vakuum" geraten, erinnert sich Wong. Die Regierung der früheren britischen Kolonie habe damals die Parole ausgegeben: "Wir sind alle Chinesen." Niemand sollte an Unabhängigkeit denken.

Vor allem Studenten hätten aber nur wenig Verbindung zum Festland gespürt, weiß Wong. "Kulturell, historisch und politisch denken wir anders", habe ihre Erfahrung gelautet. Er habe daher seine Partei gegründet als Plattform, um eine eigene Identität der Hongkonger zu begründen. Die Mitglieder hätten Gewalt angesichts zunehmender Radikalität auf beiden Seiten schließlich nicht mehr ausgeschlossen, um "die Kosten für die Regierung hochzutreiben, eine stabile Gesellschaft aufrechtzuerhalten".

"Wir waren keine 'ausgebildeten' Aktivisten", betont Wong. Es sei immer wichtig, solche von der KP ausgegebenen Narrative zu hinterfragen. Die Demonstranten seien kreativer geworden, hätten die Unabhängigkeit als Ziel ausgegeben und "einfach etwas tun" wollen. Dass dabei auch chinesische Bürger diskriminiert wurden, sei falsch gewesen. Er sei daraufhin sogar als "Rechter" kritisiert worden. Trotzdem ändere dies nichts daran, dass die KP "Clans, Kulturen und Identitäten" auslösche.

Die Bewegung sei zunächst ohne Führung entstanden, ergänzte die ebenfalls aus Hongkong stammende Bürgerrechtlerin Glacier Kwong, die mittlerweile im Exil in Hamburg lebt. Es habe anfangs "keine massive Kampagne" und "keinen Aufstand" gegeben, vielmehr hätten Gleichgesinnte Ideen über Telegram und Signal ausgetauscht. "Die Technik hat Vertrauen aufgebaut", erläutert die Dissidentin. Livestreams und das Crowdsourcing von Materialien seien dazugekommen. Erst später habe die Bewegung gemeinsame Forderungen entwickelt: Demnach sollte die Peking-treue Regierungschefin Carrie Lam zurücktreten, das verschärfte Auslieferungs- und Demonstrationsrecht zurückziehen und gefangene Widerstandskämpfer freilassen.

Nachdem die Polizei immer brutaler geworden sei, bei Demonstrationen sogar Passanten hineingezogen sowie Teilnehmer geschlagen und mit Tränengas besprüht habe, schlug die Stimmung Kwong zufolge um. Die Protestler stürmten daraufhin Anfang Juli 2019 das Parlament. Sie hätten ein Statement abgeben wollen und sich gewaltsam "gegen das Gebäude gewandt, das das Regime symbolisiert". Menschen sollten nicht verletzt werden.