Missing Link: China, Hongkong und der Westen – Schlacht der Narrative

Seite 2: Eines der größten politischen Experimente der Welt

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Die Polizei habe daraufhin ihre Kennungen nicht mehr gezeigt, moniert Kwong. Die Aktivisten hätten daher "öffentlich verfügbare Informationen zusammengefügt" und bei Videoaufnahmen von Kundgebungen Software zur biometrischen Gesichtserkennung angewandt. "Wir sind nicht mehr nur die Opfer von Polizeigewalt, wir können sie verantwortlich machen", sollte die Botschaft lauten. Die Bewegung nutze auch die Blockchain-Technik, um der Zensur eigene Berichte entgegenzuhalten und "zu dokumentieren, was passiert ist". Es gelte, im Kampf um die Narrative "die Geschichte zu erhalten".

Die US-Chinesin Sharon Hom sieht Hongkong unter diesen Umständen als Schauplatz "eines der größten politischen Experimente in der Welt". Peking habe "das volle Arsenal an gesetzgeberischen und technologischen Waffen mit Polizeigewalt und sozialer Kontrolle in Stellung gebracht, um die eigene nationale Agenda durchzusetzen". Ein autoritärer Staat und Demokratie hätten in einer Stadt zusammen aber keinen Platz. Die Zusagen Chinas gegenüber der internationalen Gemeinschaft stünden nur noch auf dem Papier. Die KP legitimiere ihr Vorgehen mit dem Verweis auf die innere Sicherheit und den Kampf gegen Terrorismus, halte sich dabei aber nicht an internationale rechtliche Standards.

Die offizielle Erzählung der Partei lautet nach Darstellung der Geschäftsführerin der Menschenrechtsorganisation Human Rights in China: Die Volksrepublik, die aktuell vor allem aufgrund des für den am 4. Februar geplanten offiziellen Starts der Olympischen Winterspiele in Peking im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, führe den globalen Widerstand gegen westlichen Imperialismus und Ausbeutung an. Im Gange sei eine ideologische Schlacht: Die USA und die Alliierten wollten ihre Werte wie Demokratie und Menschenrechte gegen die kollektiven Ziele vieler Länder setzen, die unter anderen ökonomischen Bedingungen groß geworden seien.

Für Hom steht indes außer Frage: "China will nicht nur das internationale Menschenrechtssystem umgestalten, sondern die ganze Welt." Alle, die eine andere Meinung vertreten, wolle die KP mundtot machen, mit der Behauptung, sie ignorierten die Fakten. Vor allem die Bürger Hongkongs sollten nur noch auf das hören, was die Partei sagt, "nicht, was die Augen sehen und das Herz fühlt". Parallel habe Peking in der Metropole das Wahlgesetz so umgestaltet, dass nur noch "Patrioten" ihre Stimme abgeben dürften. Kritisches Denken sei aus den Lehrplänen gestrichen worden.

Sanktionen und andere Instrumente des Westens "hatten bisher einen vernachlässigbaren Einfluss auf den andauernden Crackdown der Menschenrechte", befürchtet die Juristin. Zu lange sei der Mythos gepflegt worden, die ökonomische Reform sei entscheidend, die wirtschaftliche Liberalisierung führe auch zu einer politischen Öffnung. Politiker, Denkfabriken und Medien in westlichen Staaten müssten daher endlich ihre Hausaufgaben machen und vor allem aufhören, Menschenrechte als Diskussionsmasse und "soft law" abzutun.

Einen der angesprochenen Thinktanks hat mit "Tech Inquiry" Jack Poulson im Silicon Valley gegründet. Der frühere Mitarbeiter in Googles Abteilung für Künstliche Intelligenz (KI) sieht die USA und den Westen allerdings nicht unbedingt als Bewahrer der Menschenrechte. Selbst Bill Gates habe bereits unter Verweis etwa auf die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden zu bedenken gegeben, dass die USA in Überwachungsfragen eine ähnliche Herangehensweise pflegten wie China. US-Politiker seien zudem oft bereit, die Menschenrechte zu vergessen, wenn sich dies als profitabel für Konzerne des Landes herausstellen könnte.

Google selbst habe eine ähnlich ambivalente Linie gegenüber dem Reich der Mitte verfolgt, moniert Poulson. Eric Schmidt habe als damaliger Chef des Internetkonzerns schon 2006 die Parole ausgegeben, es sei besser, die Zensur in China zu akzeptieren, als gar keine Technologie zur potenziellen Stärkung auch von Bürgerrechten dorthin zu bringen. Daraus sei ein jahrelanger Streit über die Dragonfly-Suchmaschine für das Reich des Drachen entstanden. Der Konzern habe sich im Anschluss zwar eigene KI-Prinzipien verpasst, gleichzeitig aber in Washington gegen ein Verbot biometrischer Gesichtserkennung im öffentlichen Raum lobbyiert.

Andere im Silicon Valley groß gewordene Big-Data-Unternehmen wie Palantir mischten ebenfalls mit, um Sanktionen für den Export spezieller Überwachungstechniken nach China zu verhindern, berichtete der Lobby-Experte auf der Konferenz. Menschenrechtsverletzungen durch ihre Produkte nähmen solche Firmen bewusst in Kauf. Denkfabriken wie Center for Defense Studies (C4ADS) und das Center for New Data machten sich parallel für die bessere Ausbeute großer Datenbestände etwa für Drohnenschläge und Tracking stark. Damit verknüpfte Widersprüche zum offiziellen China-Narrativ im Westen würden bislang zu wenig ausgeleuchtet.

Besorgt macht Poulson ferner, dass neben China weltweit Facebook die meisten personenbezogenen Daten innehat. Diese Berge könnten beide Mächte etwa für das Trainieren von KI-Algorithmen nutzen.