Missing Link: Ein chinesisches Schiff wird kommen – auch beim autonomen Fahren?

Beim fahrerlosen Verkehr passiert etwas Ähnliches wie schon bei der E-Mobilität: Kalifornien experimentiert, bei uns wird reguliert, und in China wird skaliert.

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Verliert Deutschland beim autonomen Fahren den Anschluss?

(Bild: metamorworks/Shutterstock.com)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Bei der Elektromobilität hieß es lange: Die Kunden wollen nicht, der Verbrenner ist eh unschlagbar und sollte sie dann doch kommen, würde es den deutschen Herstellern leichtfallen, ihre Technologieführerschaft auch im Elektrozeitalter zu behaupten.

Bekanntlich kam es anders: Ein Start-up aus Kalifornien hat gezeigt, dass es doch geht: Tesla. Und die deutschen Hersteller haben geschlafen und laufen ihrer angestammten Rolle als Technologieführer hinterher. Der lachende Dritte ist die chinesische Autoindustrie, nicht zuletzt dank der Initialzündung durch die Tesla-Ansiedlung in Shanghai vor gerade einmal fünf Jahren.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich beim autonomen Fahren ab: Zwar ist Deutschland mit dem Gesetz zum autonomen Fahren von 2021 führend, trotzdem tut sich bei uns nicht viel. Die chinesische Führung hingegen fördert die Technologie auf allen Ebenen, und weist erneut Tesla die Rolle zu, die heimische Konkurrenz zu beleben. Tesla darf seine autonomen Fahrfunktionen in China testen – mit regulatorischen Weihen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem möglicherweise das Erreichen der "Ebene der Produktivität" ansteht, also jener Phase im Gartner-Hype-Zyklus, bei der die kommerzielle Anwendung einer Technologie gelingt. (Für einen Überblick siehe: 20 Jahre autonome Fahrzeuge: Wo stehen wir?)

Im Juli 2018 unterzeichnete Tesla-Chef Elon Musk einen Vertrag mit der Regionalregierung von Shanghai, die es ihm erlaubte, Teslas dritte Gigafactory dort zu bauen. Chinas Partei- und Staatsführung erlaubte Tesla sogar, die zuvor gegründete Tesla Shanghai Co., Ltd. als hundertprozentige Tochterfirma zu betreiben und nicht als Joint Venture mit einem heimischen Hersteller, wie das für ausländische Hersteller bis dato immer verpflichtend gewesen war.

Der Grund für diese einmaligen Bedingungen liegt darin, dass Tesla die Rolle eines Anlassers für die heimische Elektroindustrie zugedacht war, ein Modell, das China in mehreren Sektoren erfolgreich eingesetzt hat. Marina Zhang zufolge, Spezialistin für Chinas Innovationspolitik, kalkulierte die Führung, dass "der Einstieg von Tesla China dabei helfen würde, seine eigenen Lieferketten auf dem Markt für Elektrofahrzeuge aufzubauen". Das Kalkül ging auf.

Um die Kosten niedrig zu halten, bezog Tesla bevorzugt Teile von inländischen Zulieferern, derzeit liegt ihr Anteil bei 90 Prozent und soll Ende das Jahres 100 Prozent erreichen. Als Nebeneffekt enstand so eine Zulieferindustrie für E-Fahrzeuge von Weltrang.

Als Reaktion auf den Markteintritt von Tesla ist die Akzeptanz von Elektrofahrzeugen in China erheblich gestiegen. In der Folgezeit wurden Teslas Fahrzeuge ähnlich wie die iPhones von Apple zu Statussymbolen und begehrten Luxusgütern in China. Fünf Jahre nach dem Produktionsstart in Shanghai fahren in China 1,6 Millionen Teslas, kaum weniger als in den USA.

Etwas Ähnliches scheint sich auch beim autonomen Fahren zu wiederholen. Tesla hat gerade eine wichtige Hürde genommen, um sein Full-Self-Driving-System (FSD) auf dem weltweit größten Automarkt zu etablieren. Der chinesische Verband der Automobilhersteller hat kürzlich eine Lizenz an Tesla vergeben, die es dem Unternehmen erlaubt, seine autonomen Fahrfunktionen auf öffentlichen Straßen in China zu testen. Die Entscheidung fiel mit dem Überraschungsbesuch des Tesla-Chefs auf der Pekinger Automesse zusammen, wo er Premierminister Li Qiang traf.

Im Januar hatte Tesla noch auf Befehl des Staatliche Zentralamt für Marktregulierung (SAMR) alle seine in China fahrenden Fahrzeuge zurückrufen müssen, um Probleme mit seinem Autopilot-Fahrerassistenzsystem zu beheben und das Risiko von Kollisionen zu verringern.

Tesla ist das erste nicht-chinesische Unternehmen, das einen solchen regulatorischen Segen und damit Marktzugang in China bekommt. Die in der Gigafactory in Shanghai gebauten Model 3 und Model Y erhalten dadurch wahrscheinlich besseren Zugang zu staatlichen Einrichtungen, Flughäfen und Autobahnen. Das sei für Tesla ein wichtiger Schritt, um mit seinem FSD-System in China zum "Industriestandard für Software zu werden", ist der Branchenanalyst Tom Narayan überzeugt.

Technologiepartner von Tesla ist Baidu, Chinas Suchmaschinen-Gigant. Baidu liefert Karten- und Navigationsfunktionen und gewährt Tesla Zugang zu seiner Kartierungslizenz für die Datenerfassung auf Chinas öffentlichen Straßen. In China müssen alle autonomen Fahrsysteme eine Kartierungsqualifikation erwerben, bevor sie im Straßenverkehr eingesetzt werden können.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

China, hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2035 führend im Bereich des autonomen Fahrens zu sein. Die chinesische Industriepolitik verspricht sich von diesem Schritt entscheidende Impulse für die heimische Industrie – mit dem Ziel, dass chinesische Unternehmen auch in diesem Bereich nicht nur den Binnenmarkt bedienen, sondern perspektivisch auch zu Weltmarktführern werden können.

Das Rezept aus dem Bereich Elektromobilität könnte sich auch hier bewähren – Tesla darf sich als Premiumanwender etablieren und wirkt gleichzeitig auf die Branche als technologischer Impulsgeber. Mit dem erhofften Endergebnis eines Siegeszugs chinesischer Technologie im Mainstream.

Dabei ist China eh schon gut dabei beim autonomen Fahren, insbesondere beim Betrieb von Robo-Taxis sehen wird in der Volksrepublik eine breitere und dynamischere Entwicklung als in den USA. Dort sind Waymo und Cruise technologisch führend, kommen allerdings mit ihren Kommerzialisierungsbemühungen nur langsam voran und müssen allerlei Rückschläge verkraften. Auch ist die regulatorische Unterstützung außer in Kalifornien und Texas schlicht inexistent.

In China gibt es über 40 Testgebiete mit einem Streckennetz von mehr als 15.000 Kilometern. Neben Peking sind auch in Guangzhou, Shanghai und Shenzhen selbstfahrende Fahrzeuge unterwegs. Die Unterstützung durch staatliche Regulation und lokale Behörde ist in China erheblich intensiver als in den USA. Die Shanghaier Stadtregierung sieht vor, dass bis 2025 70 Prozent der produzierten Autos über autonome Fahrfunktionen verfügen und fordert Unternehmen auf, in Forschung und Entwicklung zu intensivieren.

Chinesische Firmen, sowohl Autohersteller als auch Techunternehmen, sind bereits heute sehr gut aufgestellt und testen auch in Kalifornien. Teslas Partner Baidu betreibt eine Flotte von mehr als 600 Robo-Taxis, mit denen es bis dato 60 Millionen Testkilometer zurückgelegt hat – mehr als drei Millionen im Rahmen von kommerziellen Fahrten. Außer Tesla und Baidu sind in China noch eine Reihe weiterer Firmen Kollaborationen eingegangen, um das autonome Fahren zu kommerzialisieren.

AutoX, das in Shanghai und Shenzhen operiert, kommt gar auf mehr als 1000 Fahrzeuge im kommerziellen Robotaxi-Betrieb. Auch der chinesische E-Commerce-Riese Alibaba und das Elektrofahrzeug-Start-up Xpeng kollaborieren bei Software für selbstfahrende Autos und haben ein gemeinsames Rechenzentrum dafür errichtet. Tencent, neben Baidu und Alibaba der dritte große alte Techkonzern, arbeitet mit dem Elektrofahrzeughersteller Nio beim autonomen Fahren und hochauflösender Kartierung zusammen. Ähnlich Foxconn und Nvidia, die ebenfalls eine Kollaboration für eine Software-Plattform für autonome Autos vermeldet haben.

Huawei ist auch dabei und betont in einer ausführlichen Marktstudie: "Branchenübergreifende Zusammenarbeit wird die neue Branche prägen. Automobilhersteller und Technologieunternehmen arbeiten zusammen, um ihre Stärken zu maximieren." Der deutsche Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer sieht die Sache ähnlich: Um den Anschluss an die Mobilität der Zukunft nicht zu verlieren, seien gemeinsame Projekte mit dem Vorreiter China unverzichtbar, äußerte er kürzlich.

Seit Mai 2021 können in Deutschland vollständig autonome Fahrzeuge grundsätzlich am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen, das sieht das von Bundestag und Bundesrat verabschiedete "Gesetz zum autonomen Fahren" vor. Das Gesetz ebnet zwar insbesondere öffentlichen fahrerlosen Flottenbetrieben den regulatorischen Weg, doch ist in den zweieinhalb Jahren seit der Verabschiedung nicht viel passiert.

Die deutschen Autohersteller konzentrieren sich auf Level 2 und 3 in ihren Fahrzeugen. Vom Betrieb von fahrerlosen Robotaxi-Flotten (Level 4) haben sich die traditionellen Hersteller schon länger verabschiedet. Der Chef von Daimler, Ole Källenius verglich den zuletzt verbesserten Stauassistenten mit der Mondlandung, obwohl die Liste an Ausnahmefällen lang ist. Sein Kollege von BMW, Oliver Zipse, sieht den Stand der Technik gar derzeit nicht als ausreichend für einen geschäftlichen Einsatz: "Ein Level-3-System, das ständig im Tunnel, bei Regen, bei Dunkelheit, bei Nebel abschaltet – was soll das? Das kauft keiner", äußerte er am Rande der letztjährigen CES in Las Vegas.

Und im öffentlichen Verkehr? Seit Jahren kommen wir nicht über Pilotprojekt hinaus. Kein einziger Hersteller hat bislang die Zulassung eines autonom fahrenden Fahrzeugs beim zuständigen Kraftfahrt-Bundesamt beantragt. Alle autonomen Shuttles, Peoplemover und wie sie alle heißen, sind allesamt nach wie vor auf der Basis von Einzelgenehmigungen unterwegs. Von Skalierung, hunderten oder gar tausenden Fahrzeugen, geschweige denn ein kommerzieller Betrieb ist nicht in Sicht. Es ist auch völlig offen, wer an einem solchen interessiert wäre.

Es sieht derzeit so aus, als würde das Plateau der Produktivität in China erreicht werden, und Tesla spielt dabei die Rolle des Katalysators. Wie schon bei der E-Mobilität wiederholt sich die Rollenverteilung: Hierzulande wird von Seiten der Industrie abgewiegelt. Amerikanische Tech-Startups zeigen, dass es geht. Aber auf breiter Front ausgerollt wird die Technologie in China.

Chinas nachholende Massenmotorisierung wird nicht nur elektrisch, sondern möglicherweise auch fahrerlos stattfinden. Und so ein weiteres Beispiel für den "Vorteil des zweiten Spiels" darstellen, so bezeichnet der Singapurische Autor Parag Khanna (Unser asiatisches Jahrhundert), das Phänomen, dass Länder, die technologisch zunächst im Hintertreffen sind, in ihrer Entwicklung technologische Stufen überspringen und sich an der Weltspitze wiederfinden.

Und bei uns? Luxuskarossen fahren selbstständig im Stau, und irgendwo poppt der x-te Pilotversuch mit Peoplemovern aus der Bastelbude auf. Wir sind regulatorisch Spitze, aber technologisch und anwendungsseitig höchstens Provinz.

(bme)