Missing Link: Urknalltheorie – warum uns die Dunkle Energie das Licht abdreht

Die Urknalltheorie sagt uns, dass der Kosmos expandiert. Aber wie groß ist das beobachtbare Universum? Eine simple Frage mit einer komplizierten Antwort.

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Das Licht der bisher fernsten nachgewiesenen Galaxie GN-z11 ist um den Faktor 12 ins Infrarote verschoben. Die heute für uns nachweisbare Strahlung verließ die Galaxie 400 Millionen Jahre nach dem Urknall, und sie war 13,4 Milliarden Jahre lang bis zu uns unterwegs. Wie weit ist die Galaxie von uns entfernt? Tipp: Es sind nicht 13,4 Milliarden Lichtjahre…

(Bild: Hubble-Weltraumteleskop, NASA, ESA, P. Oesch (Yale University), G. Brammer (STScI), P. van Dokkum (Yale University), and G. Illingworth (University of California, Santa Cruz).)

Lesezeit: 37 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Wie groß ist das Universum? Woraus besteht es? Wie ist es entstanden und wie wurde es so, wie wir es heute kennen? Mit diesen Themen beschäftigt sich die Kosmologie, die Lehre von der Entstehung und Entwicklung des Universums. Sie ist derzeit eine der spannendsten Disziplinen der Naturwissenschaft und sie spannt einen Bogen von der Physik des Allerkleinsten zu den größten Strukturen, die wir kennen. Die neue Artikelreihe skizziert den derzeitigen Stand des Wissens und legt dar, warum die große Mehrheit der Kosmologen scheinbar so absurden Ideen anhängt wie von leerem Raum mit abstoßender Gravitation, der Entstehung des Universums aus dem Nichts und dem unsichtbaren Stoff, aus dem 95 Prozent des Universums bestehen. Diesmal geht es um die Frage, wie groß das beobachtbare Universum ist und welchen Maßstab man an ein expandierendes Universum anlegt.

Nachdem wir uns in den bisherigen Artikeln dieser Reihe davon überzeugen konnten, dass die Sache mit dem Urknall, der Dunklen Energie und Dunklen Materie nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein scheint, können wir uns nun ein wenig mit der Dynamik des expandierenden Universums auseinandersetzen. Fangen wir mit einer einfachen Frage an, die uns bald schon in die Abgründe des Urknallmodells hinein ziehen wird.

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Wie groß ist eigentlich das beobachtbare Universum? Das kann ja eigentlich nicht so schwer zu berechnen sein. Das Weltall ist 13,8 Milliarden Jahre alt und nichts kann sich schneller bewegen als das Licht – folglich müsste sein Radius 13,8 Milliarden Lichtjahre sein? Oder? ODER?

Leider falsch geraten – so funktioniert die Expansion nicht. Es gibt nicht zwei am weitesten voneinander entfernt liegende Orte, die sich mit Lichtgeschwindigkeit in jede Richtung voneinander entfernen. Die Hubble-Lemaître-Expansion ist keine Expansion von irgendetwas in den leeren Raum, was maximal mit Lichtgeschwindigkeit möglich wäre. Es ist der Raum selbst, der expandiert. Und der expandiert mit keiner bestimmten Geschwindigkeit, sondern mit einer Rate. Was heißt das denn nun schon wieder?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die Hubble-Lemaître-Konstante H0 wird gemeinhin in km/s pro Megaparsec (Mpc) angegeben (km s-1 Mpc-1). Kilometer pro Sekunde ist eine Geschwindigkeit, Megaparsec ist eine Entfernung (1 Parsec ist die Entfernung, aus der die Astronomische Einheit, das ist die mittlere Entfernung Erde-Sonne, einen Sehwinkel von 1 Bogensekunde = 1/3600 Winkelgrad einnimmt, das sind etwa 3,26 Lichtjahre). Anschaulich betrachtet wächst die Geschwindigkeit, mit der sich Galaxien aufgrund der kosmischen Expansion von uns entfernen, mit knapp 70 km/s (genauer: 67,27 km/s) je Megaparsec Entfernung. Also bei 2 Mpc mit 140 km/s und bei 10 Mpc mit 700 km/s.

Man kann die beiden Strecken (km und Mpc) natürlich auch gegeneinander wegkürzen, denn 1 Mpc = 3,084·1019 km. Dann bleibt übrig: 67,27/3,084·1019 s-1= 2,181·10‑18/s, also eine Zahl dividiert durch Sekunde. Ein Zahlenwert durch Sekunde ist eine Rate, ein Anteil pro Sekunde (keine Frequenz, da sich hier nichts zyklisch wiederholt). Es ist der relative Anteil, um den eine jede Strecke aufgrund der kosmologischen Expansion pro Sekunde wächst. Man könnte ihn auch in Prozenten ausdrücken: 2,181·10-16 % der Strecke pro Sekunde, eine Art kosmologischer Zinssatz. Bezogen auf einen Kilometer würde dieser um 71,6 Nanometer pro Jahr wachsen. Das sind weniger als 1/10.000 mm. So schnell expandiert das Universum also gar nicht. Erst auf die gewaltigen Entfernungen zwischen Galaxien summiert sich dieses eigentlich unglaublich träge Wachstum auf nennenswerte Geschwindigkeiten.

Wenn aber alles wächst, warum wachsen wir und alle Maßstäbe nicht mit? Über gar nicht einmal so kurze Zeiträume betrachtet ist die Expansionsrate nahezu konstant (siehe unten). Es braucht daher nichts als einen kleinen Schubs gegen die Raumexpansion, um die Entfernung zu einem von der Raumexpansion fortgetriebenen Objekt konstant zu halten. Man muss nur genau so schnell in Richtung des Objekts unterwegs sein, wie sich dessen Entfernung vom Ausgangspunkt durch die Raumexpansion vergrößert, dann bleibt der Abstand kräftefrei unverändert. Es wäre sicherlich schwierig, diese Geschwindigkeit exakt zu treffen, aber der wesentliche Punkt ist: Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. Wir brauchen aber, einmal auf der richtigen Geschwindigkeit, gar nicht zu beschleunigen, um den Abstand zu einem anderen Objekt gegen die Raumexpansion zu halten – also gibt es auch keine Kraft, die uns von dem Objekt fortzieht. In der Realität sorgen vielmehr die Kräfte zwischen den Objekten, seien es die Gravitation oder bei in Kontakt befindlichen Objekten die Bindungskräfte der Materie dafür, dass die Objekte und Atome zusammenhalten, Planeten um ihre Sterne kreisen und diese um ihre Galaxien, ohne von der kosmologischen Expansion auseinander gezogen zu werden.

Erst auf Entfernungsskalen, auf denen die Gravitation zwischen den Galaxien kaum noch eine Rolle spielt, beginnt es an dem "kleinen Schubs" zu mangeln, der verhindern könnte, dass sich zwei Galaxien voneinander entfernen, denn die Materie entstand ja gewissermaßen in Ruhe zum umgebenden Raum. Zwar gibt es gemäß der Relativitätstheorie kein absolutes Bezugssystem, das aus Sicht aller anderen Systeme übereinstimmend in Ruhe verharrt. Man kann vielmehr jedes beliebige Objekt als ruhenden Bezugspunkt für alle anderen festlegen und die Geschwindigkeiten aller anderen Objekte relativ zu diesem einen Objekt bestimmen. Die Rotverschiebung der kosmischen Hintergrundstrahlung bildet hierbei ein im gesamten Universum verfügbares, ausgezeichnetes Bezugssystem, relativ zu welchem man seine Geschwindigkeit überall leicht feststellen kann: Man ist genau dann in Ruhe zur Hintergrundstrahlung, wenn diese in jeder Richtung dieselbe Rotverschiebung und damit dieselbe Temperatur hat. Das trifft für die Erde zu, wenn man ihre Bewegung um die Sonne sowie deren um die Milchstraße subtrahiert, und ebenso die Bewegung der Milchstraße aufgrund der Gravitation des benachbarten Superhaufens abzieht. Es geht hier um ein paar hundert km/s, sprich, Peanuts.

Nach dem kosmologischen Prinzip ist das überall im Universum genauso. Die Materie entstand überall in relativer Ruhe zur Hintergrundstrahlung, denn die Hintergrundstrahlung entsprang ja gerade eben jener Materie in ihrer frühen, heißen Phase. Jegliche Bewegung der Galaxien umeinander und der Sterne innerhalb der Galaxien entstand erst danach durch die Fallbeschleunigung, welche die Materie in Richtung zufällig etwas dichterer Zonen im Gas strömen ließ. Die Dichteunterschiede waren aus Quantenfluktuationen hervorgegangen, die durch die Inflation auf kosmische Ausmaße vergrößert und durch Baryonische Akustische Oszillationen im Plasma des Urknalls verstärkt worden waren.

Bei hinreichend weit entfernten Galaxien in der Größenordnung von ca. 10 Mpc dominiert die Hubble-Lemaître-Expansion über die durch die wechselseitige Gravitation verursachte Bewegung der Galaxien. Und bei Entfernungen von 14,5 Milliarden Lichtjahren erreicht die Geschwindigkeit, mit welcher der Raum anwächst, gar die Lichtgeschwindigkeit, und überschreitet sie darüber hinaus – man kann sich aber nicht schneller als das Licht der Galaxie hinterher bewegen und somit wird es unmöglich, die Entfernung zu einer sich so schnell entfernenden Galaxie konstant zu halten.