Mitwachsend und kostengünstig: Start-up entwickelt Armprothesen für Jugendliche
Der Tunesier Mohamed Dhaouafi bietet 3D-gedruckte Armprothesen für 2.000 Dollar an. Junge Menschen in ganz Afrika sollen davon profitieren.
- Jonathan W. Rosen
- Veronika Szentpetery-Kessler
Vor vier Jahren fand Mohamed Dhaouafi bei einem Studentenwettbewerb heraus, dass der Cousin eines Teamkollegen ohne Arme geboren worden war, sich aber keine Prothese leisten konnte. Die Gruppe um den tunesischen Ingenieurstudenten war auf der Suche nach einem Projekt mit gesellschaftlicher Relevanz. Als er erfuhr, dass es vielen Menschen wie dem Cousin geht, überzeugte er das Team, eine hochfunktionale, aber günstige Armprothese zu entwickeln.
Prothesen-Modelle für Kinder und Jugendliche
Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es weltweit 30 Millionen amputierte Menschen. In ärmeren Ländern können sich etwa 95 Prozent keine Prothese leisten. Diesen Anteil will Dhaouafi deutlich senken. Besonders Kinder und Jugendliche brauchen häufig ein neues Modell, weil sie noch wachsen. Doch selbst günstigere Armprothesen sind mit etwa 10.000 Dollar zu teuer. "Bis jemand 20 Jahre alt ist, braucht er etwa zehn Prothesen", sagt Dhaouafi. Ohne Hilfsgerät aber halten die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und das Stigma der Verletzung viele Kinder vom Schulbesuch ab. Schlimmer noch: Die Betroffenen bleiben oft ihr Leben lang arbeitslos.
Dhaouafi wusste aus eigenen Befragungen, dass "selbst die fünf Prozent Prothesenträger oft nicht ganz glücklich damit sind". Meist sei sie zu schwer, das Handgelenk nicht drehbar, sie hat nur drei Finger, und die Lieferung nach Tunesien dauert lange. Sein Team gewann den Wettbewerb mit einer rein mechanischen Armprothese. Anschließend entwickelte er ein neues, per Solarenergie aufladbares Modell mit manuell drehbarem Handgelenk und fünf Fingern – zunächst im Rahmen seiner Abschlussarbeit und dann mit seinem 2017 gegründeten Start-up Cure Bionics. Kostenpunkt des Modells: nur 2.000 Dollar. Cure entwickelte selbst günstige Schaltkreise und Sensoren. Alle weiteren Komponenten lassen sich per 3D-Druck aus leichtem Kunststoff herstellen.
Ähnlich wie bei anderen Armprothesen detektieren zwei Sensoren im Schaft die elektrische Aktivität der Muskeln direkt unter der Haut. Die Benutzer lernen, die Muskeln gezielt einmal oder mehrmals anzuspannen und wieder zu lockern. KI-Algorithmen übersetzen diese Signalkombinationen in drei Griffe: das Umschließen eines Gegenstandes, den Griff mit gestrecktem Zeigefinger – um Handy und Tastatur zu bedienen – und einen Dreifinger-Haltegriff. Aktuatoren bewegen die Finger über feine Drähte.
Mitwachsende Prothese entwickelt
Fürs Erste will Dhaouafi drei verschiedene Größen anbieten. Weil seine Manschette verstellbar ist, wächst die Prothese gleichsam mit. Zudem lässt sie sich durch den 3D-Druck kreativ gestalten. "Eine Probandin sagte zu mir: 'Ich habe mich immer gefragt, wie ich mit nur einem Arm in einem Kleid aussehe. Aber jetzt überlege ich, welche Gestaltung am besten zu meinem Hochzeitskleid passt'", erzählt Dhaouafi. Am meisten aber berührte ihn ihre Reaktion auf die Bitte, ein Video von sich mit der Prothese anzusehen. "Sie rief: 'Nein, meine Stimme ist grässlich', und steckte sich, ohne darüber nachzudenken, beide Zeigefinger in die Ohren."
Um diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem künstlichen Arm zu schulen, testet Cure Bionics ein selbst entwickeltes Computerspiel für eine Virtual-Reality-Brille. "Dann sagt Ihnen nicht der Arzt, dass sie sich vorstellen sollen, wie Sie einen Apfel aufheben, sondern Sie schwingen sich mit Ihrer Hand wie Spider-Man von Gebäude zu Gebäude", sagt Dhaouafi.
Die ersten Tests mit fünf Jugendlichen waren erfolgreich. Nun starten größere Studien. Dhaouafi hofft, jungen Menschen in ganz Afrika, im Nahen Osten und auch darüber hinaus später sogar künstliche Beine und Exoskelette für die Rehabilitation nach einem Unfall anbieten zu können. Für diese Entwicklungen wurde er im Juni mit dem Preis für "Innovatoren unter 35" der US-Ausgabe von Technology Review ausgezeichnet.
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(jsc)