Nichtmehrimbetriebssystem: Was wurde aus Windows Automotive?

Seite 2: Im Darkroom, bekleidet nur mit dem Mantel des Schweigens

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Das Schweigen betrifft jedoch nicht nur Microsoft. Die Partner aus der Automobilindustrie möchten auch nichts dazu sagen. Ich fühlte mich bei der Recherche, als wolle ich erfahren, was denn am letzten Samstag im Darkroom gelaufen ist. Betretenes auf-die-Füße-Schauen. Schweigen. Es muss schlimm gewesen sein, alkoholschwanger, düster, verzweifelt und nüchtern im Rückspiegel betrachtet eine Schande, die alle Beteiligten für immer vergessen wollen. Dabei war Windows Automotive durchaus massenhaft auf öffentlichen Straßen unterwegs.

Das bekannteste Beispiel dürfte Fords Infotainmentsystem "Sync" gewesen sein. Ford hatte sich nach der Jahrtausendwende vorgenommen, bei den Umwälzthemen Vernetzung und Telematik ganz weit vorne zu spielen. Dazu holten sie sich den IT-Riesen Microsoft ins Bett. Es klebte sogar Microsofts Logo im Innenraum, Teil des Deals. Die aus dieser in vollstem Optimismus eingegangenen Ehe entsprungenen Sync-Kinder kennen wir heute als missratene Waldschrate – abschreckende Beispiele dafür, wie eine Mittelkonsole nicht aussehen sollte. Irgendwann zog Ford die Reißleine, verstieß das Windows-Sync-System und präsentierte 2016 Sync 3 auf Basis des Marktführers in Sachen Mittelkonsole QNX (dazu in einem späteren Artikel mehr).

BMW verwendete 2002 Windows Automotive sogar im Siebener, ihrem Oberklassemodell. Toyotas "Entune" war dabei. Hyundai-Kia verkündete 2008 stolz eine "langfristige Partnerschaft" mit Microsoft, für Infotainment-Systeme mit Sprachbedienung, "High Performance" und flexiblen Upgrade-Fähigkeiten. Eine Rolle spielte auch der "niedrige Preis". Die langfristige Partnerschaft endete nach nicht allzu langer Zeit ganz still.

Am längsten hielt die Fiat-Chrysler Gruppe Windows Automotive die Treue. Bis 2017 verkaufte der Konzern Fahrzeuge mit Windows. Fiats erstes System "Blue & Me" lief auf schmaler Hardware von Magneti Marelli unter dem Fahrersitz und wurde bis 2014 verbaut, als es vom deutlich Feature-reicheren "UConnect" abgelöst wurde. Blue & Me arbeitete relativ unauffällig, was daran lag, das Fiat und Marelli es bewusst einfach gestaltet hatten: Bluetooth-Freisprecheinrichtung, Musik über USB, Text-to-Speech-Modul für SMS, iPod-Anbindung, fertig. Viel mehr schaffte der schmalbrüstige Prozessor unter hohem CE-Overhead sowieso nicht. Später folgte "Eco:Drive", das Fahrern helfen sollte, ihre Fahrökonomie zu verbessern. Da Ecodrive die Fahrdaten auf einen USB-Stick schrieb, den Nutzer dann am PC auswerten sollten, hat das Feature wahrscheinlich nie jemand ernsthaft genutzt.

Fiat Blue & Me (4 Bilder)

Dieser Stecker war das auffälligste Zeichen für ein installiertes Blue & Me. Das "Powered by ..." war Teil des Deals. Der USB-Stecker liegt geschützt hinter diesem Logo (man muss es zur Seite schieben).

(Bild: Clemens Gleich)

Es gab sogar eine Update-Möglichkeit: USB-Stick mit neuem Firmware-Image einstecken. Fiat stellte dafür ein paar Betriebssystem-Updates zur Verfügung und ließ Kunden in einigen Modellen das später entwickelte Text to Speech nachrüsten. Selbst in dieser einfachen Konfiguration glänzte Windwos Automotive nicht gerade: Die Sprachqualität war büchsig, das System wechselte gern zufällig zwischen Radio und USB-Musik, es konnte im Stand die Batterie leersaugen, und das BS crashte häufig, um automatisch neu zu booten. Der Nachfolger "UConnect" lief teilweise noch auf Windows (auf den Continental-Steuergeräten), teilweise schon auf QNX (auf den Harman-Steuergeräten). Das machte es einfacher, Windows heimlich auszuschleichen, als Microsoft (genauso heimlich) den Geschäftszweig aufgab. Wie wir später am QNX-Uconnect sahen, lag die Software-Qualität zum Teil an Microsoft, zum Teil an Fiat-Chrysler. Microsoft und FCA, der Doppel-Whopper fragwürdiger Technik. Vielleicht hielt die Partnerschaft deshalb bis zum Ende.

Doch Fiat und Ford waren nicht etwa unbedarft mit ihrer Wahl. Fiats Blue & Me war nicht nur günstig, sondern auch früh dran in Sachen Sprachbedienung, Freisprechanlage und USB-Musik. Ähnlich sah es bei der Ford Motor Company aus: Man wollte vorn dabei sein, und Microsoft versprach viele Dinge, die zu diesem Plan passten, von der Sprachbedienung bis zur Update-Fähigkeit. Es haperte nur an der Umsetzung. Windows Automotive krankte also am selben Problem, an dem auch der Pocket PC krankte: Im PRINZIP waren alle wichtigen Funktionen da. Doch der Benutzer musste über zu viele Stöcklein springen, um sie eine zu kurze Zeit bis zum nächsten Absturz benutzen zu können. Die großen Fortschritte beim User Interface sowohl bei Smartphones als auch bei Auto-Infotainment waren nötig, damit Kunden die Systeme kauften.

Microsoft war wie so oft mit einem zu frühen Entwicklungsstand am Markt. Die daraus resultierenden grundsätzlichen Probleme löste der Konzern nie. Stattdessen investierte man in Features, bis der Automotive-Embedded-Zweig in der Sackgasse steckte. Heute konzentriert sich Microsoft im Fahrzeug-Bereich auf die Cloud-Lösungen und fährt damit gut. Ich hätte es dennoch persönlich interessant gefunden, wie ein Herr Nadella Windows Automotive angegangen wäre. Dem Rest von Microsoft hat er immerhin sehr gut getan.

Windows Automotive ist ein skurriles Stück Auto-IT-Geschichte. Es war sicherlich nicht das einzige fragwürdige Infotainment-Betriebssystem. Zum so etwas gehören ja auch immer mindestens zwei: ein Autohersteller, ein Software-Hersteller. Windows Automotive steht jedoch mit all seinen Problemen für eine ganze Generation von Entwicklungen, die vielleicht einfach nötig waren: ln den Nullerjahren stieg die Nachfrage nach selbstverständlicher Einbindung von Consumer-Geräten wie Bluetooth-Telefonen oder dem iPod in Autos steil an. Mit der Nachfrage stieg die Komplexität. Mit der Komplexität stieg die Problemfrequenz.

Die Autoindustrie wuchs an den Anforderungen, denn wenn man sich vom aktuellen Anspruch aus alte Infotainment-Geräte genauer anschaut, fällt jedes Mal ziemliches Gebastel auf. Viele verschiedene Steuergeräte, viele verschiedene Betriebssysteme, viel fehlgeschlagene Systemintegration, doch auch viele Ansätze, die sich später als Industriestandards durchsetzten. Der Markt steht heute stark gewandelt da. Wir beleuchten in einem folgenden Artikel den heutigen Status Quo anhand der Produkte des Mittelkonsolen-Marktführers Blackberry QNX. Später folgen Googles neues Android Automotive OS, Automotive Grade Linux und Details zu Volkswagens Software-Plattform "VW.OS", weil Volkswagen sie ja unbedingt verzerrend als "Betriebssystem" vermarkten will.

(cgl)