Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen (1/4): Früher war mehr Lametta

Von Heiligabend bis zum 3. Weihnachtstag reiht sich das diesjährige vierteilige Feature, in dem Andreas Wilkens einige Anmerkungen übers Fernsehen anbringt.

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"Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos." Bronzeplastik von 2013, eine Replik von Loriots Originalsofa, geschaffen von Herbert Rauer. Sie steht vor dem Sendezentrum von Radio Bremen.

(Bild: Andreas Wilkens / heise online)

Lesezeit: 12 Min.
Inhaltsverzeichnis

Wenn Jörg Draeger seine Gäste fragte, ob sie an ihrer Wahl festhalten wollten, hätten sie der Probabilistik halber nicht lange überlegen müssen. Die einige Male, die ich die Sendung "Geht aufs Ganze" in den 1990ern während meiner Studienzeit verfolgte, geschah das nie, immer wieder ließen sie sich von Draeger verunsichern. Vermutlich hatte kaum ein Kandidat davon Kenntnis genommen, dass das Finale der Spielschau auf dem Ziegenproblem basiert. Wenn Draeger nicht das Tor von dreien öffnete, das der Kandidat wählte, und ihm angesichts des mageren Gewinns anbot, seine Wahl zu ändern, sollte er das tun, also das Tor wechseln. Dann nämlich ist die Gewinnchance doppelt so groß wie wenn der Kandidat bei seiner ursprünglichen Wahl bleibt.

Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen

Ursprünglich lief die Sendung von 1992 bis 1997 auf Sat.1, kürzlich ist Draeger aus dem medialen Limbus "Let's dance" und aus der eigentlichen Fernsehhölle "Promi-Big-Brother" wieder hervorgekommen. Nun zeigt Draeger nicht mehr am Vorabend, sondern freitags zur Prime Time seine Zonks. Auf Deutsch "Hauptsendezeit", die begann, wenn alle Papas ihre Armband- und die Pendeluhren mit dem Tagesschau-Gong auf die offiziell verbürgte Zeit getrimmt hatten. Als die Wochentage noch verschiedene Farben hatten. Es ist kein Klischee, mein Vater saß vor Beginn der ARD-Hauptnachrichtensendung mit Daumen und Zeigefinger am anderen Handgelenk, mit Ohr und Augen zum Fernsehschirm, um Punkt 8 die Krone seiner mechanischen Armbanduhr zu drücken und so dem Tag die aus Hamburg verkündete Exaktheit zurückzugeben.

Mittlerweile lebt mein Vater nicht mehr und ich stehe selbst knapp davor, nicht mehr zur Hauptwerbezielgruppe zu gehören. Eigentlich hätte ich sie schon verlassen sollen, denn ursprünglich hatte RTL sie willkürlich auf die Gruppe der 14- bis 49-Jährigen festgelegt, 2013 nahm der Privatsender auch noch die bis 59 Jahre hinzu. Vor allem diesen Menschen, ihren noch unerkannten und zu erregenden Gelüsten sowie ihren Portemonnaies gelten die dauernden Sendungsunterbrechungen, denen ich mich – auch mit Hilfe von Technik, doch dazu später – weitgehend entzog. Wobei: Nachdem ich einmal meinem internetfernen Vater lang und breit erklärt hatte, was ich als Nachrichtenredakteur bei heise online so mache, fasste er es knapp zusammen: "Du verdienst Dein Geld mit Werbung." So ganz Unrecht hatte er damit nicht. 2016 flogen die Privatsender mit der Einführung von DVB-T 2 HD ganz aus meiner Senderliste und nun lebe auch ich in der Welt des Streamings und der Mediatheken.

So habe ich nicht nur Draegers Comeback verpasst, auch Thomas Gottschalks Wiederkehr mit "Wetten, dass…" ist an mir vorbeigegangen. Nicht aber an etwa 14,5 Millionen Menschen, die sich die Sendung vor knapp zwei Monaten angeschaut haben sollen. Die Sendung mit der einmal nicht aus den USA, sondern von Frank Elstner stammenden Spielidee hatte offenbar ein nostalgisches Mobilisierungspotenzial, so wie es sich die Fernsehmacher von "TV Total" oder der Wiederauflage von "Dalli Dalli" versprechen oder versprochen haben mögen. Ich gehöre eher der Generation "Am Laufenden Band" oder "Einer Wird Gewinnen" an, Spielschaus, die wir als Kinder gemeinsam mit den Eltern am Samstagabend mit Chips, Flips, Limo und Schokoriegeln, die sogar in Milch schwimmen, verfolgten. "Wetten dass…" wird vermutlich der letzte Dinosaurier des Samstagabends gewesen sein, den eine Familie gemeinsam vor dem Fernseher verbrachte. Nun sitzen sie von Smartphones und Tablets zersplittert mit jeweils ihrem eigenen Programm in ihren Echokammern. Dabei wünschen sich die Zuschauer ein TV-Lagerfeuer, um das sich alle Generationen versammeln, wie der scheidende ARD-Vorsitzende Tom Buhrow als ein Ergebnis des Zukunftsdialogs mit der Zuschauerschaft diese Woche der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete.

Nicht Gottschalk, Raab oder Draeger, sondern Rudi Carrell, Hans Rosenthal, Peter Alexander, Wim Thoelke, Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff, auch Uschi Nerke und Ilja Richter strukturierten die Wochen und Abende. Den älteren von ihnen setzte die Dokumentarfilmerin Regina Schilling 2018 ein sehr bewegendes dokumentarisches Denkmal. Als Pöks konnte ich nicht ahnen, wie viel der Showmaster und Schauspieler Kulenkampff mit dem Schicksal meines Vaters verband, der still hinter mir, der ich auf dem Teppich lag, seine Pfeife schmauchte und in der Zeitung blätterte. Feuer, Pfeife, Stanwell.

Ähnlich wie von Kulenkampff in seiner Sendung war auch von meinem Vater im Alltag nicht viel über die brutale Jugendzeit an der Ostfront zu hören. Kulenkampff verlor seine Zehen, mein Vater die Versprechungen von einer guten Zukunft. Über Hans Rosenthal erfahren wir spätestens hier von seinem Überlebenskampf als versteckter Jude in der Hauptstadt des Nazi-Reichs. Schillings Film erregte selbst auf dem undankbaren Sendeplatz kurz vor der Nacht zum Donnerstag so viel Anteilnahme, dass die ARD ihn mehrmals ausstrahlte, auch um ihn so wieder in der Mediathek bereitstellen zu können.

Ansonsten hatte es mein Vater eher mit Tierdokumentationen, Sportschau und dem Bildungsfunk im Dritten. Ein dröger Mann im Pullunder erörterte dort mathematische Formeln. Meine Mutter wurde eher von Stefan Derrick und dessen Vorgänger Herbert Keller gebannt, wo die Kommissare schon mal über den Tod eines Junkies kopfschüttelnd zur Schnapsflasche im Schreibtisch griffen und sich ein oder zwei genehmigten, was auf dem Nachbarkanal auch gerne Paul Trimmel tat. In Ede Zimmermanns "Vorsicht Falle" war bestimmt mindestens jede zweite Masche der Nepper, Schlepper und Bauernfänger auf das Prinzip Vorkasse einzudampfen. Zusammen mit mir und James Dean vergoss meine Mutter Tränen jenseits von Eden und wenn "Schweinchen Dick" lief, rief ich sie laut durchs Haus aus dem Waschkeller herbei. Die Trickfilmsendung mit dem Roadrunner, Speedy Gonzales und Bugs Bunny wurde Anfang der 1970er Jahre auf Betreiben des damaligen rheinland-pfälzischen Sozialministers Heiner Geißler vom ZDF abgesetzt, ihm erschien sie zu aggressiv und brutal.

Von jenem ZDF, der ab 1963 sendete, nachdem Konrad Adenauer damit gescheitert war, einen gesamtbundesdeutschen Fernsehsender zu installieren, der nicht wie die ARD den Ländern, sondern dem Bund unterstehen sollte. Adenauer war die ARD zu regierungskritisch. Vom "Staatsfunk" war damals die Rede, ein Wort, das heute die Männer vom äußeren rechten Rand wiederbeleben wollen, damit diesmal aber auch die ARD meint, die von der Regierung gelenkt werde; ein Vorwurf, der auch mir, der nicht im Öffentlich-Rechtlichen arbeitet, ab und zu mal zugedacht wird, während ich das mir von Merkel überwiesene Geld zähle. Das Bundesverfassungsgericht stoppte das Adenauer-Fernsehen mit seinem ersten von bisher zwölf Rundfunkurteilen am 28. Februar 1961.

Im ZDF liefen ab 1964 "Weihnachtsvierteiler", beginnend mit der Verfilmung von "Robinson Crusoe". Dafür war ich wie für die Mondlandung und andere Straßenfeger wie die Edgar-Wallace-Filme noch zu jung, als Erste hängengeblieben waren mir die "Lederstrumpferzählungen", die vom 25. bis 28. Dezember 1969 gesendet wurden. Zwischen den Jahren hineingetaucht in die Wälder Nat Bumppos und Chingachgooks. Später faszinierten mich "Tom Sawyers Abenteuer" und die "Schatzinsel", als sie wiederholt wurden und ich auch in der Lage war, sie selbst zu lesen, der "Seewolf" und "Michael Strogoff". Da viele Impulse, die wir heute verspüren, ihre Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen, deren aber nicht immer bewusst sind, vermute ich, dass dieser Vierteiler hier von der ehemaligen ZDF-Tradition inspiriert wurde. Mit David Balfour stieg ich aus der Tradition aus, mir war wohl die Titelmelodie zu kitschig.

Und nun ist Weihnachten. Nicht der stolpernde Butler James, der kleine Lord ist wieder mal im Ersten Deutschen Fernsehen auf der Mattscheibe zu sehen und übermorgen auf 3sat James Stewart als George Bailey, der seinem Leben ein Ende setzen will, aber Clarence rettet ihn und zeigt ihm, wie die Welt ohne ihn aussehen würde – gefressen vom Raubtierkapitalismus. Am Ende wird natürlich überall geweint, diesmal diesseits von Eden. Das sind solche Sendungen, die Fixpunkte im Jahr setzen, wie "Die Hard" an jenem Tag, an dem auch der Heiland langsam vergangen sein soll, ebenso wie ein Mann namens Brian. Nun aber ist Winter und die Zeit, in der Hoppenstedts Dicki ein Atomkraftwerk geschenkt bekommt und Opa meint, früher habe mehr Stanniol am Tannenbaum gebaumelt. "Zickezacke, Hühnerkacke", heute Abend im Ersten.

Damit und noch viel mehr sind uns die Ideen Vicco von Bülows alias Loriot hängengeblieben; "das Bild hängt schief". Als humoristischer Gegenpol könnte Dieter Hallervordens "Nonstop Nonsens" gelten, dem wir Bonmots wie "palim palim" oder "eine Flasche Pommes" zu verdanken haben. Er steht in der Tradition der "Väter der Klamotte", die uns das ZDF freitags mit Texten von Hans Dieter Hüsch unterlegt präsentierte, während Loriot eher dem feinen britischen Humor bis zur Absurdität Monty Pythons zuzuordnen wären. Deren Sketchserie "Flying Circus" war erstmals komplett 1991 in Deutschland auf N3 zu sehen, zum Glück mit Originalton und nicht wie sieben Jahre später von Sat.1 ins Deutsche synchronisiert.

Woher ich weiß, dass der kleine Lord und George Bailey auch dieses Weihnachten zu uns herüberflimmern? Da ich doch meine letzte Fernsehzeitschrift etwa 2008 gekauft hatte, nicht die Hörzu, mit der ich aufgewachsen war und die den Montag gelb, Dienstag grün, Mittwoch blau, Donnerstag rosa, Freitag lila, den Samstag rot und den Sonntag orange machte, den Tag zwischen rot und Montag. Über den kleinen Lord und George Bailey stand etwas in der hiesigen Tageszeitung. Meine einzige noch verbliebene regelmäßige Fernsehsendung läuft heutzutage sonntags um 20.15, und wenn ich sonst noch Fernsehen schaue, dann nach eigenem Gusto oder, wie es fachsprachlich heißt, nicht-linear.

Als Nachrichtenredakteur muss ich während der Arbeit ohnehin immer auf dem Laufenden sein, da braucht es nicht obendrein Fernsehnachrichten. Denkste. Es kann schon mal passieren, dass ich es mir zum Feierabend bequem mache, zufällig im Fernsehen die Nachrichten erwische und es mich noch einmal zum Tickern an den Schreibtisch zieht. So geschehen dieses Jahr in der Nacht auf den 7. Januar, als ich Bilder von der Erstürmung des Capitols in Washington sah und meinte, die Nachricht sei auch für heise online relevant.

Mehr Nützes Gedöns

Eine andere Begebenheit hätte mir schon früh eine Lehre sein können. Am 2. Weihnachtstag 2004 hatte ich eine Newstickerschicht absolviert, damals noch mit einem Modem zu Gast bei meiner damaligen Freundin im Internet unterwegs. Erst als ich die Schicht beendet hatte, bekam ich mit, dass an dem Tag durch ein Seebeben und Tsunami im Indik mehr als 200.000 Menschen ums Leben gekommen waren. Ich hatte mich nur auf Webseiten bewegt, die ausschließlich für die Themenauswahl für den Newsticker auf heise online relevant waren.

17 Jahre später habe ich ein wesentlich schnelleres Internet, in dem mir die vielen Kommunikationskanäle, die es darin mittlerweile gibt – auch unterwegs auf meinem Smartphone – und die diese Bandbreite bitter nötig haben, gewiss eine solch große Nachricht in Windeseile präsentiert hätten. Aus dem Internet kommen jetzt auch die Fernsehsendungen zu mir, in einer früher nie gekannten nicht-linearen Auswahl.

Den ganzen steinigen, für die digital Natives kaum nachzuvollziehenden Weg zu dieser Freiheit habe ich beschritten. Dazu morgen mehr, ich schreibe erst mal weiter.

(anw)