Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen (2/4): Dachakrobatik im Antennenwald

Im zweiten Teil des Weihnachtsfeatures erlebt Andreas Wilkens ein tonloses 1:1 und versucht, nicht-linear zeitsouverän zu werden.

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Sperrmüll an einer Bremer Straße. Ein Medion-Fernseher hat ausgedient.

(Bild: Andreas Wilkens / heise online)

Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

Meine Karriere als Fernsehzuschauer begann ganz unten, auf dem Wohnzimmerperser. Die älteren in meiner Familie, und das waren alle außer mir, gaben mir Anweisung, wann ich das Programm zu wechseln hatte. Eine Fernbedienung hatte unser Fernseher nicht, aber es gab mich und nicht so viele Anlässe, umzuschalten. Es gab ja nur drei Programme in unserem Sendegebiet. Einige Jahre später hatte eine befreundete WG einen Kasten mit ein paar Knöpfen und einem Kabel daran. WGs waren zu der Zeit meist dem modernen Stand der Technik mangels finanzieller Mittel hinterher, woanders lagen kabellose Bedienungen auf den hoch und runter kurbelbaren Couchtischen.

Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen

Der Technik weit hinterher war auch ich in meinem ersten WG-Zimmer, das ich nach dem Abitur bezog. Irgendwer hatte mir einen Röhrenkasten besorgt, in dem nur der Ton ging, und einen zweiten, der nur das Bild zeigte. Die beiden Apparate stellte ich übereinander und lernte mit der Zeit, zuerst das Bild kommen zu lassen und dann den Ton. Denn wenn ich nicht diese Reihenfolge und einen gewissen Abstand zwischen den Einschaltungen einhielt, fiel das Tor in der Sportschau nur akustisch und das Bild hatte sich erst weit nach der Zeitlupenwiederholung aufgebaut, zu sehen war dann nur noch Heribert Faßbender.

Ein tragbarer Fernseher sollte her, günstiger als die großen Kisten, klein und mit Tragegriff. Im Sommer 1983 hatte ich dank eines Jobs genug Geld für einen Gebrauchten, aber in der warmen Jahreszeit waren sie nur schwer zu bekommen, weil die Camper sie für ihre Ferien brauchten, und sie waren mitunter sogar teurer als die großen Gebrauchten. Tragbare Fernseher, gibt es die überhaupt noch? Ja, doch, nicht mehr so klobig und im übertragenen Sinne sind sie nun weit in der Mehrzahl, da die Menschen mobil ja nun nicht mehr nur in ihrem Wohnwagen fernsehen können, sondern mit ihrem Smartphone oder Tablet allüberall.

So gut wie alles jederzeit können sie schauen, je nachdem, ob sie dafür zu zahlen bereit sind oder die Öffentlich-Rechtlichen präferieren. Nicht-linear oder zeitsouverän, wie es die ARD in ihren Mediaperspektiven (PDF) nennt, schauen heutzutage 78 Prozent der Menschen im Alter von 14 bis 30 Jahre. Auf der anderen Seite gucken 97 Prozent der Menschen im Alter ab 69 Jahre das in ihrem Fernseher, was ihm gerade gesendet wird. Knapp mehr als die Hälfte der 30- bis 39-Jährigen schauen zeitversetzt, unter den 40- bis 49-Jährigen sind es knapp weniger als 40 Prozent, in der Altersgruppe 50 bis 59 15 Prozent und die 60- bis 69-Jährigen schauen zu 12 Prozent zeitversetztes Fernsehen.

In einer kleinen Umfrage unter Freunden und in der Familie bestätigte sich dieses Bild, viele von ihnen schauen den "Tatort" nur dann, wenn er frisch hereinkommt, und einige auch die Schiene mit Sportschau und Weltspiegel und Tagesschau vorher. Manche wollen nicht auf die Direktübertragung ihrer Lieblingsvorabendschmonzette oder auf die neuestes Erkenntnisse des Wissenschaftshansdampfs Harald Lesch verzichten. Kein Wunder, dass der Aufschrei groß war, als Til Schweiger meinte, der "Tatort"-Vorspann mit der gut 50 Jahre alten Musik Klaus Doldingers solle erneuert werden. Allerdings durfte Dieter Bohlen einigermaßen ungeschoren die Eröffnungsfanfare der ebenfalls sakrosankten "Sportschau" komponieren – bo-bou.

Vermutlich ist die Schnittmenge der Fußballgucker und der Krimifans nicht so groß. Wobei der Begriff "zeitsouverän" euphemistisch ist, denn ein Zeitfresser bleibt das Fernsehen auch nicht-linear; immerhin ist es nicht exponentiell. Auch mit Inhalten aus der Mediathek ließen sich Rituale aufbauen, viele lassen sich aber immer noch aus den Gegebenheiten der Rundfunkanstalten dazu anleiten. Die Frage ist nun, ob die so "zeitsouverän" nachwachsenden Generationen unritualisiert bleiben, können sie sich ihre Inhalte doch frei zusammenstoppeln. Fasert ihr Leben aus?

Ich versuche auch immer noch, mich am Sonntagabend rechtzeitig zur Wettervorhersage vor den Fernseher zu klemmen. Besser noch mit etwas Vorlauf, um Chips und Getränke bereitzustellen. Irgendwann Mitte der 1980er bekam ich von einem meiner Brüder einen gebrauchten VHS-Videorekorder überlassen, mit dem sich Sendungen auch zeitprogrammieren ließen. Das funktionierte natürlich nicht immer, weshalb es immer spannend war nachzuschauen, ob der Kasten während meiner Urlaubszeit brav seine Dienste geleistet hatte. Manchmal löschte ein kurzer Stromausfall die Programmdaten, es gab Bandsalat oder den Fehler beging ich, weil ich vergessen hatte, das Band zurückzuspulen. Dabei waren wir doch durch die überall sprießenden Videotheken konditioniert, die 1 DM extra verlangten, wenn der zurückgegebene Film nicht wieder am Anfang war.

Der Videorekorder half auch, die manchmal sehenswerten im Privatfernsehen gezeigten Filme besser ertragen zu können, denn die vielen Werbepausen ließen sich vorspulen. Die Ansage hieß zu Anfang der Werbepause, "gleich" oder "sofort" oder sogar "jetzt" geht es weiter, obwohl ca. 10 Minuten Reklame folgte. Ein gutes Beispiel für die Umdeutung von Wörtern durchs Marketing, das uns auch gerne Atomkraft als Kernenergie oder Technik als Technologie verkaufen will. Jedenfalls musste der Film aber erst komplett aufgenommen sein, um ihn zwischendurch mal stoppen zu können. In einem ganz speziellen Fall, der Sportschau, war das aus kulturellen Gründen nicht möglich, denn die Spannung auf die Fußballergebnisse ließ sich nicht aufschieben; auch bestand jederzeit die Gefahr, dass jemand Besserwissender die Ergebnisse ausposaunt und damit die ganze Spannung abtötete.

Als die Rechte für die Fußballbundesliga der Männer 1992 von der ARD zu Sat.1 wechselten, wurde die Fußballübertragung beckmannisiert, will sagen, der Spieltag mit Reklame arg zersplittert. Da sich nichts vorspulen ließ, zerfaserte die Gruppe Fußballenthusiasten, die sich über die Jahre immer zur werbefreien ARD-Sportschau eingefunden hatte, mit der Zeit immer mehr, weil die Freunde irgendwann von dem Kühlschrank oder der Toilette, wo sie die Werbepause nutzen wollten, schon nach dem zweiten oder ersten Werbeblock nicht mehr zurückkamen.

Apropos Fußball und Sat.1. Am Ende der Saison 1985/86 stand der SV Werder in Griffweite des zweiten Meistertitels und musste am drittletzten Spieltag in Mönchengladbach spielen. Das Spiel sollte live übertragen werden, der DFB überließ dem damals kleinen Sender die Übertragungsrechte für einen Haufen Geld. Sat.1 war aber nur im Kabel zu empfangen, das hatten in Bremen aber nicht alle Menschen, auch ich nicht. So fand ich mich mit einer Gruppe Werder-Anhänger in der Bremer Obernstraße vor dem Schaufenster des Elektronikhändlers Brinkmann ein, in dem ein Fernseher stand, auf dem das Spiel gezeigt wurde. So wie es früher zugegangen ist bei wichtigen Spielen, als noch kaum jemand einen Fernseher besaß.

Das Spiel endete tonlos 1:1, auch die direkten Konkurrenten aus München spielten unentschieden und blieben zwei Punkte hinter Werder, sodass am 33. Spieltag im direkten Aufeinandertreffen der beiden Werder durch einen Sieg die Meisterschaft hätte einsacken können. Tausende versammelten sich auf dem Bremer Domshof vor einer grobpixeligen Videowand, die nur aus einer bestimmten Entfernung eine einigermaßen gute Auflösung bot. So kam es, dass kurz vor Schluss des Spiels, als Schiedsrichter Volker Roth auf den Elfmeterpunkt im bayerischen Strafraum zeigte, viele den darauf von Michael Kutzop gechippten Strafstoß im Tor wähnten und unbändig jubelten. Langsam sprach sich dann herum, dass der Ball nicht im Tor gelandet war. Schlusspfiff, alle trotteten unverrichteter Dinge nach Hause, denn das im Falle eines Bremer Meistertitels versprochene Freibier fiel aus.

Ende der 1980er Jahre hatte auch ich Kabelfernsehen. Die Fummelei an der Zimmerantenne entfiel. So manche Dachakrobatik der Familienväter auch, die auf Zuruf aus dem Wohnzimmer an Metallmasten herumbogen, bis die Grisselei aufhörte oder überhaupt ein Sender reinging. Bei der Gelegenheit konnte auch der Beweis geführt werden, dass das Rauschen auf der Mattscheibe anders als gerne behauptet mit der Hintergrundstrahlung aus dem All nichts zu tun hat.

Ins Kabel wurde nicht nur Sat.1 eingespeist, sondern auch das DDR-Fernsehen, das terrestrisch in Bremen nur unter sehr günstigen Umständen empfangbar war. Es zeigte zum Beispiel den Film "Ghandi", der im westdeutschen Fernsehen nicht gezeigt wurde. Und vor allem zeigte sich zu der Zeit schon bald, was Fernsehen wirklich spannend machen kann. Ab Anfang September 1989 strahlte das Fernsehen der DDR das Jugendmagazin "Elf 99" aus, ab Mitte Oktober trat Erich Honecker zurück und es mehrten sich zunehmend die Live-Übertragungen, zum Beispiel erstmals ganztägig aus der Debatte der Volkskammer, von Diskussionsrunden und Protestdemonstrationen, und es liefen tatsächlich ungeschönte Berichte über die Zustände im Land.

Auch die legendäre Pressekonferenz des Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski, die den Fall der Mauer auslöste, verfolgte ich direkt am Fernseher. In seinem medienwissenschaftlichen Seminar sagte unser Professor Franz Dröge damals, die Vorgänge im DDR-Fernsehen hätten direkt und massiv vor Augen geführt, wozu Medien in der Lage sein können. Zudem sei ein solcher abrupter Umstieg von einem durch Zensur und Konvention staubtrocken gehaltenen Staatsfunk zu einer lebendigen Bühne der Demokratie beispiellos. Schon bald hatte die offen gelebte Demokratie im Fernsehen ein Ende, die ostdeutschen Sender wurden der ARD eingegliedert. Der kurze Herbst der Anarchie hat ihr Ende, das Fernsehen wurde gezähmt so wie später das Internet durch die großen Internetkonzerne kommerzialisiert.

Mehr Nützes Gedöns

Von Schabowskis genuschelter Freischaltung der Mauer bis zum ersten Festplattenrekorder dauerte es bei mir etwa 15 Jahre, das Fujitsu Siemens Activy Media Center benötigte für einen reibungslosen Ablauf einige Pflege und mitunter vertiefte Soft- und Hardwarekenntnisse, aber er ermöglichte es, eine laufende Sendung anzuhalten: Ich war im Time Shift angekommen, eine Art Übergangsepoche zwischen Videorekorder und Mediatheken und Streamingdiensten. Später legte ich mir einen Mac mini mit Eye TV als Mediacenter zu. Der kam zur Fußballweltmeisterschaft 2010, die in Südafrika ausgetragen wurde, gerade recht, denn es gab ein Vuvuzela-Plugin zum Download, der das nicht zu überhörende Dauergetöse der Tröten in den Stadien für die Fernsehzuschauer auszufiltern versuchte. Die Software erkannte und kennzeichnete außerdem die Werbeblöcke der Privatsender und löschte sie bei Bedarf.

Denn es ist ja so, Werbung wirkt. Das weiß ich, seit ich einmal einen Spot der Firma Dallmayr gesehen habe. Darin zupft eine adrett gekleidete Bedienstete des Feinköstlers im Regal oder der Auslage herum. Es ist nur der Sprecher aus dem Off zu hören und beschauliche Musik, aber die Bilder sind mehrsagend, als ein Mann mit Chefkochmütze kommt und die Bedienstete abkanzelt. Kann sein, dass der Werbespot etwas anders verlief, aber so blieb er mir in Erinnerung. Jedenfalls achte ich seitdem peinlichst darauf, keine Dallmayr-Produkte zu kaufen, nun, nach #metoo erst recht.

Wie es war, als der GEZ-Mann doch einmal vor der Tür stand, und ob sich der ganze finanzielle Aufwand fürs Fernsehen überhaupt lohnt, dazu lesen Sie morgen mehr.

(anw)