Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen (4/4): Gestern, heute, morgen

Zum Finale des Weihnachtsfeatures zieht es Star Trek in den verpilzten Abgrund und Neil Postman, Sepp Maier, Heidi Klum und andere gesellen sich dazu.

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Fernmeldeturm in Bremen-Walle. Von diesem 1982 eröffneten Turm werden unter anderem die Fernseh- und Hörfunkprogramme von Radio Bremen abgestrahlt.

(Bild: Andreas Wilkens / heise online)

Lesezeit: 14 Min.
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War das aufregend, als Statist in Rudi Carrells "Am Laufen Band" aufzutreten, so wie ich am 29. September 1979. Bei der Gelegenheit holte ich mir ein Autogramm von Sepp Maier, der auch dabei war. Ansonsten hat das Fernsehen heute jedenfalls kaum noch Sensationen zu bieten, Nina Hagen hatte ebenfalls schon 1979 in einer österreichischen Talkshow vorgeführt, wie Frauen sich selbst befriedigen, und Willy Brandt auf Tuchfühlung mit Helmut Kohl Heiner Geißler 1985 als schlimmsten Hetzer seit Goebbels bezeichnet. Die früher penibel eingehaltenen Grenzen des fiktiven Fernsehspiels in Sachen Gewalt und Sex wurden spätestens mit dem Spiel der Thröne und den wankenden Toten eingerissen. Privatsender entblößen schon lange in Talkshows, Gerichtsfarcen, Frauentäuschen und Frau suchenden Bauern die Limitiertheit vor allem jener Menschen, die sich nicht wehren können, und Zweitverwerter Stefan Raab drehte gerne noch einmal das Messer in der Wunde herum.

Nützes Gedöns (VIII.) – Fernsehen

Dabei haben nicht nur die Privaten den Schwarzen Peter, Niveaus können auch gut die Öffentlich-Rechtlichen unterschreiten, sie bedienen zum Beispiel in Boulevardmagazinen die nebligen Schichten ihres Versorgungsauftrags und fluten ihre Programme mit Soap Operas und Telenovelas. Auf der anderen Seite zeigte der 1993 gegründete Privatsender Vox in seiner Anfangszeit, wie gutes Fernsehen gemacht werden kann, es nannte sich "Infotainment"; ein Begriff, den der Kommunikationswissenschaftler Neil Postman prägte, allerdings vor dem Hintergrund des "wir amüsieren uns zu Tode" mit einer eher entgegengesetzten Konnotation. Diese Phase dauert aber gerade mal neun Monate, die Einschaltquoten blieben weit unter den Erwartungen, Vox wurde zum Unterhaltungssender umgemodelt.

Dieter Bohlen darf nicht mehr auf RTL minderbegabte Sänger und Sängerinnen bloßstellen und entwürdigen, der Sender setzt ebenso wie die Konkurrenz von Prosieben nun verstärkt auf Nachrichten und belässt seiner Schmuddelecke RTL2 prekären Klatschbedarf. Beide haben dafür gestandene Fachkräfte von den Öffentlich-Rechtlichen abgeworben. Prosieben konnte das erste Interview mit Annalena Baerbock ausstrahlen, nachdem sie zur Spitzenkandidatin der Grünen gekürt wurde, und auch sonst mühte sich der Sender um Informationen rund um die Wahl. Da sie in der Konkurrenz mit den Streamingdiensten in der Unterhaltung allein das Nachsehen hätten, bemühen sich die Privaten darum, im Informationssektor mehr Ansehen zu bekommen, vielleicht als Anlaufstelle für das Publikum, das in dem Meer der auch durch soziale Medien verbreiteten Fakten und Fakes nach Orientierung sucht.

Dabei konstatierte Postman schon 1992 in seinem Essay "Wir informieren uns zu Tode" eine "Vermüllung" mit Informationen. Durch sie werde die Orientierungslosigkeit der Menschen so sehr verstärkt, dass die Gesellschaft an "kulturellem Aids" erkrankt sei. Laut dem Philosophen Günter Anders gibt das Fernsehbild lediglich vor, die Realität abzubilden, und werde so zum Vorbild für gerade diese Realität. Der Mensch richte sich nach dem Abbild der Wirklichkeit und die Realität werde auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Mit etwas argumentativer Verrenkung ließe sich hier behaupten, dass sich auf Basis dieses Effekts SPD-Gesundheitsmann Karl Lauterbach mit seiner Odyssee durch die Politik-Talkshows ins Bundeskabinett getalkt haben könnte.

Aber es gibt im Fernsehen Fiktionales, das dennoch die Realität abbildet und diese womöglich verstärkt, zumindest Konventionen in Frage stellt. Gewiss hatten sich nicht erst 1968 Afroamerikanerinnen und Kanadier europäischer Abstammung das erste Mal geküsst, erstmals im Fernsehen gezeigt wurde solches aber als Teil der Visionen von einer besseren Zukunft Gene Roddenberrys in seiner Fernsehserie "Star Trek". Die Schauspielerin Nichelle Nichols stellte zudem mit Nyota Uhura ebenfalls unüblicherweise eine höherrangige Frau in der Hierarchie des Raumschiffs Enterprise dar.

Weniger dem Visionären verhaftet versuchte Produzent und Regisseur Hans W. Geißendörfer in seiner von der britischen "Coronation Street" abgeguckten "Lindenstraße" die Realität konkret abzubilden, für manche mit einem viel zu pädagogischen Zeigefinger, aber auch mit Einschränkungen: Geraucht wurde dort fast nie, aber in jeder Folge Wein, Sekt, Bier oder Schnaps gepichelt. Wenn die anderen Bewohner gerade nicht trinken konnten, war nötigenfalls Harry Rowohlt im Akropolis zur Stelle. 1990 küssten sich in der 224. Folge der Serie zwei Männer inniglich. Es war nicht der erste schwule Kuss im deutschen Fernsehen, aber dieser erregte besonders viel faschistoid oder klerikal gefärbte Kritik. Er mag zu einem offeneren Umgang mit Homosexualität beigetragen haben und dazu, dass sich später ein Berliner Bürgermeister und deutsche Bundesminister öffentlich zu ihrem Schwulsein bekannten.

Die letzte Folge der "Lindenstraße" wurde im März 2020 gezeigt, nach fast 35 Jahren hatte das Modell ausgedient. Für die ARD und ihrem Programmdirektor Volker Herres waren die Produktionskosten angesichts des Zuschauerinteresses zu hoch geworden. Die ersten Jahre hatte ich die Fernsehserie regelmäßig verfolgt und eigentlich nur verpasst, wenn der Videorekorder in meiner Urlaubsabwesenheit mal wieder Bandsalat produzierte. Es war wohl so, dass mir die Figuren irgendwie ans Herz gewachsen waren, doch mit der Zeit wurde mir es zu bunt, oder besser: zu hanebüchen.

Von Anfang zu hanebüchen erschien mir die neueste Produktion aus dem Star-Trek-Universum namens "Discovery". Von Beginn an der Roddenberrys Serienidee zugetan, nach der Originalserie noch mehr mit "The Next Generation", fiel mein Interesse mit "Deep Space 9", "Voyager" und "Enterprise" immer mehr ab, ich genügte der Pflicht wie ein Dauerfan des 1. FC Kaiserslautern. "Star Trek: Picard" überzeugte mich auch nicht, immerhin war Patrick Stewart dabei, allerdings altersgerecht nur noch die gemächliche Seite seiner Persönlichkeit zeigend. Den endgültigen Niedergang des Franchise markierten die Karikaturen der Klingonen ihrer selbst und spätestens der Pilzantrieb, als wollten die Star-Trek-Macher auch in Sachen Antriebstechnik weitreichende Diversität und Inklusion auf die Spitze treiben. Unser für Star Trek zuständige Rezensent war anders als dem Treiben anfangs noch günstlich zugetan, mittlerweile hat auch er alle Hoffnung fahren lassen, Discovery könne noch in irgendeine konsistente Richtung fliegen. Immer wieder vernahm ich Rufe aus dem Paralleluniversum, ich möge mich doch einmal "Babylon 5" zuwenden. Jene Rufer könnten sich über die Nachricht gefreut oder auch angesichts des Schicksals von Star Trek erschrocken haben, dass ihre Serie neu aufgelegt werden soll.

Ich war den Rufern nicht gefolgt, Babylon 5 musste ohne mich auskommen, denn mein Kontingent an Identifizierungen mit fiktiven Figuren und deren Beziehungen untereinander war aufgebraucht. Man wechselt das Franchise nicht einfach so wie wenn ich vom Kaiserslautern- zum Bayern-Fan würde, nur weil die einen Roten öfter Bundesligameister werden. Mit Jim Rockford wohnte eine Vaterfigur in einem Wohnwagen am Pazifik, Doris Day und Helga Beimer waren glücklicherweise nicht meine Mütter und Annika und Tom auch nicht meine Geschwister.

Meine wahren, älteren Brüder hatten mich im April 1971 zu sich gerufen, weil im dritten Programm des NDR die ersten Folgen der Sesamstraße gezeigt wurden. Ich verstand kein Wort, denn zunächst waren die Folgen nicht synchronisiert, war aber sehr fasziniert. Die Faszination verlor sich, als ab 1976 die originale Rahmenhandlung nicht mehr in Deutschland gezeigt wurde. Ausgerechnet mein Liebling Oscar aus der Mülltonne hatte den Unmut zu vieler Eltern hervorgerufen. Dem – mal wieder – Bayerischen Rundfunk war die dargestellte soziale Situation des US-Originals ohnehin von Anfang an dubios, er strahlte die Kindersendung nicht aus. Die Sesamstraße war nicht so zuckrig-klebrig, wie mir heute das Kinderfernsehen vorkommt. Es kann sich aber um einen ähnlichen Effekt handeln wie der, dass wir als Erwachsene gleichbleidend süße Speisen als wesentlich süßer empfinden als noch zur Kindzeit.

Für Tinky-Winky, Dipsy, Laa-Laa und Po, die ab 1999 im Kinderkanal zu sehen waren, war ich schon lange zu alt und auch froh darüber, dass ich keine eigenen Kinder habe und daher auch nicht in die Versuchung kommen könnte, ihnen das anzutun. Angesichts der neun Milliarden Aufrufe des "Babay Shark Dance" auf Youtube ist anzunehmen, dass sich so manche Eltern langsam vom Geträller ihrer Kleinsten genervt fühlen: "Baby Shark doo doo doo doo doo doo." Schwer vermutlich handelt es sich bei den neun Milliarden Klicks nicht um Aufrufe von Milliarden Nutzern, der Verdacht liegt nahe, dass Eltern ihre Kleinkinder gerne vor Youtube mit den immer gleichen Filmchen parken, damit sie nicht gestört werden.

Für den Hirnfoscher Manfred Spitzer ein Graus, denn seines Erachtens macht insbesondere früher Fernsehkonsum dumm, gewalttätig und dick; letzteres mit Ausnahme der Seherinnen, die Heidi Klums Magerquark einschalten. Harald Schmidt würde dem vielleicht entgegenhalten, dass Fernsehen blöde Menschen weiter verblödet und die Schlauen verschlaut, ähnlich wie es der britische Kommunikationstheoretiker Denis McQuale vermutete. Die drei können sich darüber streiten, was Schweinchen Dick mit mir angestellt haben mag. Eine Studie aus dem Jahr 2007 hat indes ergeben, dass die Verbreitung des Kabelfernsehens in Indien einhergeht mit einem verbesserten Status der dort lebenden Frauen. Möglicherweise profitieren indische Frauen von der vom Medientheoretiker Marshal McLuhans vor gut 50 Jahren vorhergesehenen Entwicklung der Welt zu einem globalen Dorf, in dem die Menschen über ihre geografischen und kulturellen Grenzen hinausschauen können.

Gibt es noch das Montagsphänomen auf den Schulhöfen, wenn sich die Kinder über ihre wochenendlichen Fernseherlebnisse austauschen? Höchstwahrscheinlich nicht, denn heute haben ja alle einen "Teilen"-Button in der Hosentasche. Identifikation ist auch eine quantitative, eine Zeitfrage. 1974 verbrachten die Menschen in Deutschland im Alter ab 14 Jahren durchschnittlich 125 Minuten vor dem Fernseher, wobei ich gewiss über dem Mittelwert lag. Im Jahr 2000 betrug die lineare Nutzungsdauer 220 Minuten, 2020 noch 155 Minuten, während die Menschen eine halbe Stunde im Durchschnitt täglich auf Netflix oder anderen Streamingdiensten verbringen, dazu kommen Youtube und andere Videoplattformen und Mediatheken.

Bei zwei und später gut dreieinhalb Stunden verbringen die Menschen mit Bewegtbildkonsum täglich mehr Zeit als mit Zähneputzen, Schulaufgaben, Kochen und sexuellen Verrichtungen zusammen, manche wohl auch mehr als mit der Nachtruhe, in die sie per Sleeptimer entlassen werden. Kein Wunder, dass die Erzeugnisse des Fernsehens ins kulturelle Allgemeingut übergehen. Hier wiederum ist es wohl eine Generationenfrage, denn nicht alle werden wissen, dass "Ägypten" Ausdruck äußersten Unwissens ist und "Rembrandt" die richtige Antwort auf alles, dass "Asbach" was ganz altes darstellt und wer sich stark aufregt, besser zur HB greife. Zumal seit dem 2. Januar 1971 im deutschen Fernsehen keine Tabakwerbung mehr zu sehen ist. Was sich mir aber über all die Jahre bis heute immer wieder begegnet, ist die vom Fernsehen übertragene Gewohnheit der US-Amerikaner, Kühlschranktüren für einen energie- und umweltbewussten Betrachter aufreizend lange geöffnet zu lassen. In diesen beiden Zusammenhängen möchte ich "Mad Men" als eine sehr bemerkenswerte Fernsehserie hervorheben.

Wie viel Strom in den USA nur dafür verwendet wird, die Kühlschrank wieder auf Temperatur zu erniedrigen? Vermutlich nicht so viel, wie für das Fernsehen aufgebraucht wird in einem Land – so wird mir berichtet – in dem nicht wenige Menschen aufwachen, wenn ihnen nachts der Fernseher am Bett abgestellt wird. Möglicherweise wird es künftig gar nicht mehr nötig sein, die Flimmerkiste laufen zu lassen, Elon Musk bastelt ja schon an einem Hirnimplantat, das eines Tages die vielen bunten Bilder ohne Umweg in den Kopf pumpt, quasi zerebrales Bingewatching rund um die Uhr. Oder wir spielen in Zuckerbergs Third Life namens Metaverse selbst die Haupt- oder Nebenrolle.

Falls das die Zukunft des Fernsehens werden sollte, ist es noch ein weiter Weg dorthin. Wenn heute das TV von morgen thematisiert wird, dann öfters im Kleinklein, so wie an der Universität zu Köln, an der angenommen wird, dass Kooperationen zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten wie für die Fernsehserie "Babylon Berlin" zunehmen werden. Die Kölner Medienkulturwissenschaftlerin Dr. Tanja Weber meint, für Qualitätsproduktionen, über die dann auch in den sozialen Medien gesprochen wird, liege in einer solchen Zusammenarbeit ein großes Zukunftspotenzial.

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Für den Noch-ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow ist nun erst einmal vorrangig, die Media- und Audiothek auf Vordermann und -frau zu bringen. Dabei gehe es nicht nur um Benutzerfreundlichkeit, auch die Inhalte müssten attraktiv sein. Aus den Mediatheken würden besonders vorwiegend Dokumentationen abgerufen, daher wolle die ARD mehr davon produzieren und durch eine Programmreform auch auf neuen Sendeplätzen im linearen TV unterbringen. Dr. Weber meint, auf lange Sicht würden die neuen Anbieter wie Streamingdienste nicht unbedingt die klassischen TV-Sender und -produktionen verdrängen. Das Fernsehen müsse sich an die neue Medienlandschaft anpassen, das sei ihm schon in der Vergangenheit gelungen. Es liege in der Natur des Fernsehens, dass es sich immer verändert.

In der Natur des Fernsehens liegt es auch, Kulturgut zu vermengen und selbst welches zu schaffen. Die Bedeutung und Wirkung der Kultur – hier ist nun die eigentliche "Kultur" in Form von Musik, Theater, Literatur usw. gemeint, also das, was Marcel Reich-Ranicki nicht als "Blödsinn" abgekanzelt hätte – ließen sich nicht an der Einschaltquote ermessen, meint Buhrow. Aus der Fernsehkultur – sofern sie eine eigene ist und nicht wie der Film für Stanley Kubrick nur ein Amalgam verschiedener Künste – krame ich jetzt Peter Lustig hervor:

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(anw)