Sofatutor-Gründer zu ChatGPT: Es ist zu früh, um über Schwächen der KI zu reden

Stephan Bayer erwartet für die digitale Bildungsbranche einen Boom durch künstliche Intelligenzen wie ChatGPT. Der Einsatz könnte Lehrkräfte entlasten.

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(Bild: metamorworks/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.

Die künstliche Intelligenz ChatGPT von der Firma OpenAI hat einige Fragen aufgeworfen. Unter anderem könnte eine KI wie ChatGPT den Bildungssektor gehörig verändern. Denn wie können Lehrkräfte noch sichergehen, dass Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufgaben selbst erledigt haben und nicht eine KI? Sofatutor-Gründer Stephan Bayer vertritt mit seinem digitalen Bildungsangebot ohnehin eine eher digitalfreundliche Sicht auf die Dinge. In einem Interview mit heise online erklärt er, wie genau Sofatutor, aber auch Bildungseinrichtungen mit KI umgehen könnten.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Sofatutor-Gründer Stephan Bayer

Stephan Bayer (40) ist Gründer und Geschäftsführer von sofatutor (2008 gegründet, rund 250 Beschäftigte). Der Experte für digitale Bildung, Podcaster, Soziologe und Politologe engagiert sich daneben in diversen Ehrenämtern und Think Tanks. Unter anderem hat er 2021 die Brancheninitiative iddb mitbegründet.

Wie stellen Sie sich die Einbindung von ChatGPT oder ähnlicher künstlicher Intelligenzen in der Bildungsbranche vor?

Für SchülerInnen wird es künftig möglich sein, gemeinsam mit einer KI Aufgaben Schritt für Schritt durchzugehen. Oder die KI wird in Echtzeit dialogisches Feedback anbieten.

Hier mal ein Beispiel: Der Lehrplan ist voll und die Zeit knapp. Die Hausaufgaben-Texte aller Schüler:innen im Deutschunterricht zu besprechen, ist kaum möglich. KI kann hier helfen, wie zum Beispiel DeepL Write. Das Tool ist in der Lage, Rechtschreibung und Grammatik des eingegebenen Textes zu korrigieren und dann stilistische Feedbacks zu geben. Das ist vor allem für Kinder mit Deutschdefiziten hilfreich, die an ihrer Schule aufgrund des Personalmangels nicht ausreichend gefördert werden können.

Welche Aufgaben genau soll die KI in der Bildung übernehmen oder leisten können?

Künstliche Intelligenzen sollten vor allem zur Binnendifferenzierung beitragen. Denn so haben die Lehrkräfte die individuelle Entwicklung ihrer Schüler:innen besser im Blick. Dadurch, dass die Lehrkraft live über Lernstände ihrer Schüler:innen verfügt und nicht erst im Rahmen der Klassenarbeiten die Wissenslücken einzelner Schüler:innen feststellt, kann sichergestellt werden, dass jede Schüler:in den Stoff des Lehrplans meistert.

Welche Daten dürften KI für Ihre Arbeit dabei erfassen? Welche Datenerfassung wäre unerlässlich?

Künstliche Intelligenz funktioniert auch ohne personenbezogene Daten. Es gibt sogar Anwendungen, die mit Pseudonymen arbeiten und lediglich den Lernstand der Schüler:innen erheben und anschließend individualisierte Aufgaben generieren.

Wird der Lernstand einer Schülerschaft von einer KI erhoben, dann kann schon diese Datenerfassung missbraucht werden – die Erhebungen könnten etwa kopiert und anderweitig ausgewertet und später gegen die Kinder verwendet werden. Wie sähe hier ein adäquater Schutz aus?

In Bundesländern wie Bremen erhalten Anbieter wie Sofatutor nur pseudonymisierte Nutzerdaten. Das heißt, ich sehe da eine ID aus Bremen, die aktiv auf der Lernplattform ist, weiß aber nicht, ob die ID zum Beispiel zu einem Grundschüler, einer Abiturientin oder einer Lehrerin gehört. Es ist einfach eine Chiffre. Immer die gleiche, je Nutzer – somit erlebt der Nutzer auch ein auf ihn individuell abgestimmtes Lernerlebnis. Ich habe aber keinen Klarnamen und kann den auch nicht herausfinden. Dafür sorgen spezielle Schnittstellen, die die Länder zum Datenschutz der Schüler:innen entwickelt haben.

Kinder und Jugendliche können in ihrer Entwicklung auch einmal schwierige Phasen haben – sollten sie darauf immer wieder reduziert werden können? Lehrkräfte können Faktoren, die für eine KI unsichtbar bleiben, wie zum Beispiel Schicksalsschläge, die sich auf Leistung auswirken, wesentlich fairer in Bewertungen einbeziehen. Sehen Sie für dieses Problem eine Lösung?

Es bleibt einer Lehrkraft doch weiterhin freigestellt, genauso kulant und empathisch zu bewerten. Ob die Schülerin den Physikstoff allerdings verstanden hat oder nicht, das bleibt davon ja unbeeinflusst und das sollte ich in jedem Fall über meine Schüler wissen.

Sehen Sie KI wie ChatGPT als Teil von Learning Analytics?

Definitiv, denn ChatGPT ist in der Lage, menschenähnliche Konversationen zu führen. Indem es Fragen stellt und Antworten empfängt, kann es eingesetzt werden, um bildungsrelevante Daten zu sammeln und zu analysieren. Auf diese Weise können Aufgaben entwickelt werden, die sich an die jeweiligen Leistungsstände der Schüler:innen anpassen.

Welche Leistungsstände lassen sich von einer KI denn gut verfolgen bzw. bei dem Erkennen welcher Fähigkeiten kommt auch eine KI an ihre Grenzen? Für welche Fächer wären Learning Analytics dementsprechend eher einsetzbar, für welche nicht?

Learning Analytics lassen sich in jedem Fach und in fast jedem Setting erheben: Theoretisch kann ich messen, wie lange ich an einer Aufgabe rechne und ob ich dabei mit dem Kopf oder einem Taschenrechner arbeite. Ob ich einfache oder komplexere Sätze in meinen Essays entwickle. Ob ich mit oder ohne Hilfestellungen zum Ergebnis gekommen bin, ob Lernlücken im Basiswissen vorhanden sind, mir Schusselfehler unterlaufen und ob ich die komplexen Sachaufgaben überhaupt richtig verstanden habe.

Denken Sie, dass künstliche Intelligenzen wie ChatGPT der EdTech-Branche nach Corona nun zu einem zweiten Boom verhelfen können? Und falls ja, wie könnte er aussehen?

Durch die Debatte rund um ChatGPT und KI in der Schule sind Bildungsvertreter:innen nun erneut gezwungen, sich mit digitalen Lernangeboten auseinanderzusetzen. Dadurch erhält die EdTech-Branche die Aufmerksamkeit, die sie verdient.

Könnte eine KI wie ChatGPT dazu beitragen, dass im Bildungswesen weniger Personal benötigt wird? Wie wäre das möglich und ist das vertretbar? Was spräche dagegen, was dafür? Wie sähe die Entlastung aus? Welche Aufgaben würden für Lehrkräfte entfallen oder leichter?

Lehrkräfte werden dringend gebraucht – das ist so und so wird es bleiben. Unabhängig von der Wissensvermittlung kann die KI den Lehrkräfte-Alltag vereinfachen. Sie kann zum Beispiel beim Erstellen von Lehrplänen helfen oder Arbeiten und Texte korrigieren. KI kann und wird die Lehrkraft nie ersetzen, aber ihre Rolle verändern und die Arbeit erleichtern. Wir haben erst in der vergangenen Dekade den Rollenwechsel der Lehrerin "Weg von der Erklärmonopolistin, hin zur Lernbegleiterin" erlebt. Sicher wird es einen weiteren Wandel geben.

Der Chatbot hat Tücken: Da er teilweise Falschinformationen ausspuckt, könnte es künftig immer schwerer werden, sie als solche zu identifizieren. Wie sollten Bildungseinrichtungen hier gegensteuern?

Es ist zu früh, um so über die Schwächen der KI zu reden. Mit jedem Update werden massive Verbesserungen umgesetzt. Wenn wir hier im Interview darüber reden, müssen wir schon etwas Fehlertoleranz für die KI-Version von Februar 2023 mitbringen.

In Bildungseinrichtungen müsste aber doch genau über solche möglichen Fehler gesprochen werden, nicht wahr? Denn diese können auch noch in späteren Versionen und auch in anderen Programmen immer wieder auftreten. Bugs werden beseitigt, neue Bugs werden entdeckt, Menschen schreiben Code, Menschen machen Fehler. Das sollte doch zu dem Wissen gehören, das heutzutage in den Schulen vermittelt werden sollte.

Ich meine das konkret so: Vor zwei Monaten konnte Chat GPT keine Volumina von beispielsweise einem größeren und einem kleineren Würfel miteinander vergleichen. Da gab es Kritiker, die dann meinten: "Oje, die KI ist ja so unfähig – die kann ja nichtmal a mal b mal c rechnen!". Natürlich ist das schnell aufgefallen und funktioniert jetzt besser. Bugs kann es immer geben, so wie es Fehler in Matheforen, in der Wikipedia und in Schulbüchern gibt. Und solange die KI sich am gesamten Internet als Quelle bedient, übernimmt sie diese Fehler manchmal auch.

In der aktuellen Diskussion rund um ChatGPT werden viele Stimmen laut, die sagen, dass es in der Schule mehr Anwendungskompetenz braucht, statt abrufbares Wissen – das gelinge unter anderem durch projektbasiertes Lernen. Sind Sie ebenfalls dieser Ansicht? Und braucht projektbasiertes Lernen nicht noch mehr Lehrkräfte?

Ja, das ist auch für mich die traurige Erkenntnis: Wir wünschen uns eine Schule mit diverserem Lehrplan, der besser auf das Leben vorbereitet, fächerübergreifend und projektbasiert. Aber das lässt sich nicht mal so eben automatisieren. Darum bleibt es eine gute Entscheidung, Lehramt zu studieren: Wir werden noch jahrzehntelang zu wenige Lehrer haben.

Für eine KI wie ChatGPT braucht es eine erhebliche Rechenkapazität. Wäre eine KI wie ChatGPT überhaupt für kleinere digitale Bildungsanbieter (in der EU) oder Schulen bezahlbar? Welche digitale Infrastruktur sollte hier in Deutschland und der EU aufgebaut werden?

Ich denke, auch hier werden wir deutliche Zuwächse an Rechenpower sehen. Etwas wie Moores Law. Außerdem werden wie bei Cloud-Computing viele Spezialdienste auf den Markt kommen, die als Business-to-Business oder Software-as-a-Service in andere Produkte integriert werden, wie es heute schon mit Amazon Web Services (AWS), Suche, Payment und so weiter der Fall ist.

Die Bundesländer suchen immer verzweifelter nach neuen Lehrkräften – könnten Anbieter wie Sofatutor zur Entlastung der Schulen eingesetzt werden? Was bietet unter anderem die iddb in diesem Zusammenhang an?

Wir haben schon jetzt deutschlandweit viele Kooperationen mit einzelnen Schulen jeglicher Form und auch mit Schulträgern, die dafür sorgen, dass Schulen flächendeckend Sofatutor nutzen können. Abgesehen davon arbeiten wir schon mehrere Jahre mit Bundesländern wie Bremen zusammen. Das zeigt, dass digitale Lerntools das Potenzial haben, den Unterricht zu verbessern: Sie entlasten Lehrerinnen und sichern die Unterrichtsqualität. Es gibt Quereinsteiger, die mit Sofatutor arbeiten, weil sie selbst noch nicht in Schülersprache ein Thema erklären oder festigen können.

Ich weiß von einigen Lehrkräften, die gerne die Sofatutor-Videos nutzen, um ein neues Thema einzuführen. Das spart zum Beispiel Zeit bei der Unterrichtsvorbereitung. Anschließend können die Schüler:innen die zum Video gehörenden interaktiven Online-Aufgaben bearbeiten. Das wird auch gern als Hausaufgabe aufgegeben. Das hat den Vorteil, die Wissensstände aller Schüler vergleichbar zu machen, bevor ein großer Test geschrieben wird. Auf diese Weise kann die Lehrkraft die individuellen Ergebnisse einsehen und personalisierte Lernmaterialien und Aufgaben generieren.

Würde der Einsatz von KI auch bei Sofatutor dafür sorgen können, dass auf Personal verzichtet werden kann?

Nein, wir würden nur mehr mit dem bestehenden Team schaffen.

Welche Funktionen könnte eine KI wie ChatGPT bei Sofatutor übernehmen?

Da sind einige Beispiele denkbar, wie zum Beispiel Bilder generieren, beim Brainstorming für gute Lerngeschichten Ideen liefern, im Hausaufgaben-Chat Filterfragen stellen oder die Navigation durch unsere Lerninhalte dialogisch gestalten. Auch Schritt-für-Schritt-Anleitungen zum Lösen von Aufgaben wären machbar, angepasst individuell auf Schülerprobleme.

Inwieweit setzen Sie schon auf KI?

Bisher fast noch gar nicht.

Was genau machen Sie denn mit KI – was bedeutet "fast noch gar nicht"?

Momentan verwenden wir KI – so wie viele Organisationen – als Partner im Brainstorming von Ideen für kreative Texte und Bilder. Nutzerseitig findet noch kein Kontakt mit KI statt.

Hat sich die Lage der "Initiative der deutschen digitalen Bildungsanbieter" (iddb), deren Teil Sie sind, mit dem Regierungswechsel spürbar verbessert?

Bisher nicht wirklich.

Wird die digitale Bildungsbranche von der Kultusministerkonferenz (KMK) nun eigentlich ernster genommen und erhält auch Zutritt in die Bildungssysteme der Länder oder können bereits etablierte Schulbuchverlage das Feld weiterhin für sich beanspruchen?

Hier muss von beiden Seiten noch etwas passieren: Die EdTechs müssen etwas mehr wie Schulbuchverlage werden und die Kultusministerien müssen der Kraft, die in deutschen Digitalfirmen steckt, auch eine Chance geben.

Initiative der deutschen digitalen Bildungsanbieter (iddb)

Die Initiative der deutschen digitalen Bildungsanbieter (iddb) wurde im Frühjahr 2021 gegründet, um das Potenzial digitaler Bildungsangebote aufzuzeigen. Bis heute haben sich über 60 digitale Bildungsunternehmen, Initiativen und Verbände aus Deutschland zusammengeschlossen, um vereint digitale Bildung als relevanten Bestandteil des Bildungssystems zu etablieren, für Chancengerechtigkeit bei den Schüler:innen einzutreten und der Politik aktiv ihre Unterstützung anzubieten. Mitglieder und Unterstützer:innen sind u.a. Sofatutor GmbH, Cleverly, Simpleclub, Lern-Fair (ehemals Corona School e.V), Bundesverband Digitale Bildung e.V., Codary und viele weitere. Eine Übersicht finden Sie auf iddb.school.

(kbe)