Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

Zwischen Teilchenphysik, Weltraumreise und Kriminalfall - eine Geschichte aus der Zukunft, der erste von von fünf Teilen.

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Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1
Lesezeit: 105 Min.
Von
  • Klaus Dorer
Inhaltsverzeichnis
Higgsbi

Zwischen Teilchenphysik, Weltraumreise und Kriminalfall - eine Geschichte aus der Zukunft. Es ist noch nicht lange her, dass in praktisch jeder Tageszeitung ein Fortsetzungsroman die Leser in andere Bereiche jenseits des in der Zeitung beschriebenen Alltags entführte. Etwas Ähnliches bringen wir auf heise online: eine Story jenseits des alltäglichen News- und Technik-Geschehens, in fünf Teilen, an fünf Tagen.

Alle materiellen Dinge haben eine Masse. Alle Gegenstände haben eine Masse, alle Tiere, alle Menschen. Masse ist schwer und Masse ist träge. Die Schwere der Masse zeigt sich jedes Mal unerbittlich, wenn wir auf einer Waage stehen. Die Trägheit der Masse zeigt sich jedes Mal unerbittlich, wenn jemand mit dem Schlitten gegen einen Baum fährt. Schwere und Trägheit sind untrennbar miteinander verbunden. Trotzdem kennen Menschen schon seit Jahrtausenden eine Möglichkeit, die Schwere der Masse zu eliminieren: Sie baden in Wasser. Der Auftrieb des Wassers macht einen Menschen, seine Arme, seine Beine, seine Haare schwerelos. Das gelingt seit einigen Jahren auch, wenn Menschen im Weltraum in einer Umlaufbahn um die Erde fliegen. Dann sind sie schwerelos. Die Trägheit der Masse war aber bisher unüberwindlich. Auch im Weltraum war bisher eine nicht unerhebliche Kraft nötig, um einen Menschen vom einem Ende einer Raumstation an das andere driften zu lassen. Und dieselbe Kraft war nötig, um ihn dort wieder abzubremsen. Bisher war die Trägheit, war die Kraft zum Beschleunigen einer Masse eine unumgängliche Größe. Bisher. Vor Higgsbi.

Ein Roman von Klaus Dorer

Klaus Dorer ist Professor für Informatik an der Hochschule Offenburg. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt im Schwarzwald. Das Buch entstand zwischen 2013 und 2019 in den Sommerurlauben in Italien.

Die Reise zu beinahe jedem Stern ist für einen Menschen immer eine Reise ohne Wiederkehr. Wenn man langsam fliegt, dauert die Reise länger als ein Menschenleben und man kehrt nicht zu Lebzeiten an seinen Ausgangsort zurück. Wenn man aber schnell genug fliegen kann, um in der Dauer eines Menschenlebens zu einem Stern und wieder an den Ausgangsort zurückzufliegen, ist zwar der Ort noch derselbe, aber die Zeit ist dort um die Dauer vieler Menschenleben fortgeschritten.

heise online: Welten / Die c't Stories

heise online und c't werfen mit zwei Science-Fiction-Buchreihen nicht nur einen Blick in die Zukunft. Mit den Reihen "heise online: Welten" und den "c't Stories" wollen wir auch den Blick dafür schärfen, wie Digitalisierung die Welt verändert. Die Bücher sind im d.Punkt-Verlag erhältlich.

"...bedauern wir ihnen mitteilen zu müssen, dass wir ihr Angebot nicht berücksichtigen können." Lisa zerquetschte den Brief als wenn er das Böse selbst wäre und schleuderte den Knäuel mit einem Schrei an die Wand, dass die Fenster erzitterten. Natürlich musste sie damit rechnen, nicht zum Zug zu kommen. Natürlich wusste sie, dass ihre Chancen nicht 100 und wahrscheinlich auch nicht 50 Prozent waren. Aber noch nicht einmal auf die Shortlist zu kommen war einfach unfassbar. Der Job war doch wie maßgeschneidert für sie.

"Zum nächstmöglichen Zeitpunkt suchen wir einE PrivatdetektivIn für eine mehrmonatige selbstständige Arbeit in unserem Unternehmen CernMatter", hatte es geheißen. Und neben den Sprachkenntnissen Englisch und Französisch und der obligatorischen Teamfähigkeit stand da explizit: "Vorkenntnisse in Physik sind wünschenswert." Ja, sie hatte ihr Physikstudium im sechsten Semester abgebrochen. Aber wie viele Privatdetektive konnten schon promovierte Physiker sein? Und jedem war wohl vermittelbar, dass man nach dem Unfalltod des Vaters nicht einfach so weitermachen konnte wie bisher, zumal die Mutter schon lange nicht mehr lebte. In einem Gespräch wäre das ohne Rührseligkeit erklärt und abgehakt gewesen. Aber es kam ja jetzt zu keinem Gespräch. Abgelehnt.

Lisas Vater war vor gut zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein Selbstmörder hatte seinen Wagen mit 150 Km/h in den ihres Vaters gelenkt. Beide Wagen brannten völlig aus und es war damals nur ein schwacher Trost, dass ihr Vater da schon tot war. Der Geisterfahrer hatte auf seinem Schreibtisch einen Abschiedsbrief hinterlassen. Damit war der Fall für die Polizei erledigt. Lisa konnte sich allerdings nicht so leicht mit dem Unfalltod abfinden. Es war ihr unerträglich, dass er einfach zur falschen Zeit am falschen Platz war. Sie versuchte, die letzten Minuten des Lebens ihres Vaters zu rekonstruieren. Sie untersuchte das Umfeld des Idioten, warum er nicht mehr leben wollte und wieso dieses Stück Vieh andere Lebende mit in den Tod riss. Aber das einzige, was Lisa nach etwa einem halben Jahr fand, war zu sich selbst zurück. Es war ihre Art, mit der Trauer fertig zu werden, stellte sie fest. Und sie fand zu dem Entschluss, ihr Physikstudium, das sie das letzte halbe Jahr eh völlig vernachlässigt hatte und das sie zwar mochte, aber nicht liebte, aufzugeben. Die Suche nach der Wahrheit, die sie letztendlich akzeptiert hatte, ließ ihre Freude wieder aufleben, die sie hatte, als sie zusammen mit ihrem Vater aus vagen Hinweisen Vermutungen spann, die er dann überprüfen konnte. Sie hatte sich entschlossen, die Privatdetektei ihres Vaters weiterzuführen. Von seiner Lebensversicherung konnte sie sich einige Monate über Wasser halten, bis der sicherlich schwierige Neustart geglückt wäre.

Jetzt allerdings hatte Lisa das Gefühl, dass die Wände des Raums sie immer enger umschlossen. Die Decke drückte von oben auf ihr Gemüt. Sie musste hier raus. Raus aus dem Raum, raus aus dem Haus und am besten auch raus aus dieser bescheuerten Hoffnung auf einen Job, der ihre Detektei noch retten könnte.

Sie lief die Avenue de Vaudagne entlang und erst als sie Meyrin fast verlassen hatte, war ihr Adrenalinspiegel schon wieder so weit gesunken, dass sie nicht mehr jedem unbekannten Passanten ins Gesicht schreien wollte. Das klappte immer. Ihre Aggression hatte sich auch diesmal gelegt. Allerdings wich sie jetzt, wo das Bild in ihre Zukunft keine klaren Konturen mehr hatte, einer Frustration, die sie so an sich bisher nicht kannte.

Vor dem Tod ihres Vaters hätten sie ihre wenigen Freunde als zufriedenen, ja fröhlichen Menschen bezeichnet, meist zurückgezogen und eher introvertiert, bisweilen aber auch impulsiv, insbesondere, wenn sie mit ihrem Vater diskutierte. Doch obwohl sie mit ihren dunkelblonden, halblangen Haaren, ihrem auch ohne Make-up hübschen Gesicht und ihrem sportlichen Körper wirklich als attraktiv gelten konnte, hatte sie bisher in ihrem Leben noch keinen festen Freund, obwohl sie schon 28 Jahre alt war. Zu sehr hatte sie sich nach dem Tod ihrer Mutter an ihrem Vater festgekrallt, was natürlich verständlich aber mit zunehmendem Alter auch schädlich war. Zum einen, weil ihr wirklich tiefe Beziehungen zu anderen Menschen fehlten, zum anderen fiel sie damit natürlich auch umso tiefer nach dem Tod ihres Vaters.

Beim Café Mategnin angekommen, das sie mehr unbewusst als gezielt angesteuert hatte, setzte sie sich an einen Tisch in der Ecke und bestellte eine Bananenmilch. Das Café war wie immer gut besucht und trotzdem hatte sie das Gefühl, einsamer denn je zu sein. Dass Claude die Milch brachte, registrierte sie erst, als er schon wieder von ihrem Tisch wegging. Sie bedankte sich noch halbherzig und wollte gerade zum Milchglas greifen, als sie von hinten eine junge Frau rempelte, die von der Toilette kam. Sie entschuldigte sich höflich und setzte sich ein paar Tische weiter zurück an ihren Platz. "Selbstständigkeit ade", ging ihr beim ersten Schluck der eiskalten Milch durch den Kopf. "Scheiß -Ja Sir Job-, ... Auswandern,... Tschüss Europa, ..."

Weiter kam sie nicht. Ein älterer Herr war vom Nebentisch aufgestanden und auf Lisa zugekommen. Der Mann trug einen dunklen Anzug mit blau-weiß gestreifter Krawatte, korrekt aber nicht zu konservativ. Sein Gang strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus. Er musste Ende 50 sein und sein Gesicht zeichnete ein freundliches und irgendwie väterliches Bild. Er setzte sich gegenüber von Lisa an ihren Tisch und fragte: "Darf ich ihnen zwei Fragen stellen?" "Dürfen sie", sagte Lisa ungerührt aber auch irgendwie unbeteiligt, und was ist die zweite?" Zuerst kurz stutzend verbreiterte sich das milde Lächeln auf seinem Gesicht. Er überlegte kurz und fragte dann: "Wo befindet sich ihr Portemonnaie?" Lisa sah ihn an, ohne eine Gemütsregung von sich zu geben. "In meiner Tasche", erwiderte sie kühl, da sie schon wusste, dass er nicht fragte, um es ihr wegzunehmen. "Sind sie sicher?" Jetzt lächelte Lisa. Zum ersten Mal seit Langem, wie ihr später erst bewusst wurde. "Sie fragen auf Kredit", sagte sie. "Aber bevor sie sich zu sehr in Schulden stürzen will ich ihnen auf ihre dritte Frage mit ja antworten und die Antwort auf ihre vierte Frage vorwegnehmen. Das Portemonnaie in der rechten Innentasche ihres Anzugs, das mir die junge Frau dort drüben vorhin aus meiner Jackentasche gezogen und ihnen dann gegeben hat, ist technisch gesehen natürlich auch meines. Allerdings trage ich es nur als Attrappe oder man könnte sagen als Ablenkungsmanöver für Taschendiebe wie sie. Mein echtes Portemonnaie ist wie bereits gesagt in meiner Tasche."

Er griff, den Blick nicht von ihr abwendend, in seine Innentasche, gab ihr das Portemonnaie zurück und sah sie lange regungslos an. Lisa wich seinem Blick nicht aus. Nach einer gefühlten Minute sagte er endlich: "Ich bin mit einer Frage im Soll. Vielleicht kann ich ihnen helfen ihr Soll auszugleichen, wenn sie mir helfen meines zu tilgen." Lisas Blick versteinerte sich. Redete er da von ihren Schulden? War das eine Anspielung auf ihren kurz bevor stehenden Bankrott? Bisher spielte sie das Spiel einigermaßen bedenkenlos mit. Sie wusste noch nicht genau was hier gespielt wurde, aber das freundliche Lächeln und der väterliche Blick konnten unmöglich die Fassade eines Betrügers sein, so viel Menschenkenntnis traute sie sich durchaus zu. Aber selbst wenn ihr Mutter Theresa gegenüber säße, würde sie mit ihr nicht über ihre Schulden reden wollen. Und die kannte sie genauso gut wie ihr Gegenüber, nämlich gar nicht. "Sie stellen mir einfach eine Frage und ich bin meine Schulden los", sagte er. "Und wer weiß, vielleicht ist ihre Frage gut genug, dass auch sie ihre Schulden bald abbezahlen können." Lisa schwirrten viele Fragen durch den Kopf: "Was wird hier gespielt? Wer sind sie eigentlich? Warum ziehen sie hier so eine Show ab? Was verdammt nochmal gehen sie meine Schulden an?", und am lautesten, "Wieso zum Henker denken sie, dass ich ihr Spiel hier mitspiele?" Er sah sie förmlich vor sich denken, sagte aber nichts.

"Was soll’s", sagte sie sich schließlich und setzte alles auf eine Karte, "Wann kann ich anfangen?" Sein Lächeln wurde zu einem Lachen: "Sie sind clever junge Frau. Das freut mich. Mein Name ist Mathis. Mathis Dupont. Und wie sie inzwischen natürlich erraten haben, arbeite ich für die Firma CernMatter." Sie ließ sich mit keiner Regung in ihrem Gesicht anmerken, dass sie gar nicht mehr an ihre Bewerbung um den Job bei CernMatter gedacht hatte. Lisa war eher davon ausgegangen, dass irgendein Kunde sie vor der Vergabe eines Auftrags auf diese recht skurrile Art prüfen wollte. Dass dieser Kunde jetzt CernMatter sein sollte, die ihr eben erst eine Absage geschickt hatten, war einfach nicht mehr auf ihrem Radar. "Bitte entschuldigen Sie diese unkonventionelle Art, ein Bewerbungsgespräch zu führen. Vielleicht zeigt ihnen das aber, wie wichtig uns eine gute Besetzung für den Job ist. Immerhin haben wir zwei Personen einige Zeit damit beschäftigt, sie auf ihre Eignung zu untersuchen." "Und dabei in meinen Finanzen herumgeschnüffelt?", fragte sie, um klarzumachen, dass auch sie ihren Stolz hatte. "Das war eher ein Nebenprodukt unserer Untersuchungen und spielte für die Auswahl keine Rolle", entgegnete er nüchtern. "Also, wenn sie immer noch an diesem Job interessiert sind, kommen sie doch einfach nächsten Montag um 09:00 Uhr in unsere Zentrale und melden sich für den Termin bei Frau Pinja Rieki an. Sie haben unsere kleine Prüfung bestanden, wenn auch anders als wir eigentlich geplant hatten." Beim Aufstehen fragte Mathis: "Ich darf doch hoffen, dass sie kommen werden?" Lisa nickte und schob ein etwas zu zaghaftes "Ja, gerne" hinterher. Er gab ihr die Hand und sagte: "Freut mich, dann sehen wir uns am Montag. Ich werde auch dabei sein. Hier ist schon mal meine Karte."

Lisa trank einen Schluck Milch. Dann noch einen. Aber erst als beide das Café Mategnin verlassen hatten, ballte sie die Faust und ein deutlich vernehmbares "Yes" entfuhr ihr. Sie hatte den Job. "Diesen einen wichtigen alles rettenden Job", dachte sie. Aber eigentlich hätte sie ahnen können, dass dies erst die erste Runde war.