US-Coronavirus-Forscher: "Haben nie ein Supervirus geschaffen"

Seite 3: "Du weißt nichts, Jon Snow."

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Als souveräner Staat entscheidet China selbst über die Bedingungen und Verfahren für die Biosicherheit in seiner Forschung, sollte aber wie jeder andere Staat, der biologische Forschung unter Hochsicherheitsbedingungen betreibt, auch für diese Entscheidungen verantwortlich gemacht werden können. Wenn andere Länder BSL-3-Einrichtungen entwickeln und mit der Hochsicherheitsforschung beginnen, muss jedes Land grundsätzliche Entscheidungen darüber treffen, welche Art von Sicherheitsvorkehrungen es für die verschiedenen Viren und Bakterien verwendet und welche grundlegenden Verfahren der Biosicherheit verwendet werden.

Das ist eine ernste Angelegenheit. Es muss globale Standards geben, insbesondere für noch nicht ausreichend untersuchte neue Viren. Wenn man Hunderte verschiedener Fledermausviren unter BSL-2-Bedingungen untersucht, kann einem das Glück irgendwann ausgehen.

Glauben Sie, dass das bei den Forschern in Wuhan so war?

Die Möglichkeit eines versehentlichen Entweichens von Viren bleibt bestehen und kann nicht ausgeschlossen werden. Daher sind weitere Untersuchungen und echte Transparenz von entscheidender Bedeutung. Aber ich persönlich bin der Meinung, dass SARS-CoV-2 ein natürlicher Erreger ist, der aus Wildtieren hervorgegangen ist. Seine engsten Verwandten sind Fledermausstämme. Historische Präzedenzfälle sprechen dafür, dass alle anderen menschlichen Coronaviren von Tieren abstammen. Unabhängig davon, wie viele Fledermausviren im WIV gelagert wurden, die Natur hat noch viel, viel mehr.

Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine belastbaren und verwertbaren Daten, die dafür sprechen, dass das Virus manipuliert wurde und dann aus dem Labor entfleucht ist. Da die Pathogenese von SARS-CoV-2 so komplex ist, ist der Gedanke, dass irgendjemand es genau so manipuliert haben könnte, geradezu grotesk.

Wenn man die Vielfalt der in der Natur vorkommenden SARS-verwandten Stämme kennt, ist es nicht schwer, sich einen Stamm vorzustellen, der die komplexen und unvorhersehbaren biologischen Eigenschaften von SARS-CoV-2 aufweist. Als Wissenschaftler neigen wir dazu, Experimente durchzuführen, die Literatur zu lesen und dann zu glauben, wir wüssten, wie die Natur funktioniert. Anhand von ein oder zwei Beispielen treffen wir dann definitive Aussagen darüber, wie Coronaviren aus tierischen Reservoiren entstanden sein sollen. Aber die Natur hat viele Geheimnisse und unser Wissen ist begrenzt. Oder wie es in "Game of Thrones" heißt: "Du weißt nichts, Jon Snow."

Gibt es außer dem WIV und Ihnen noch andere Gruppen, die Coronaviren manipulieren?

Vor COVID-19 gab es weltweit wahrscheinlich drei bis vier große Gruppen. Das hat sich dramatisch verändert. Jetzt ist die Zahl der Labore, die sich mit der Genetik von Coronaviren befassen, wahrscheinlich drei- oder viermal so hoch und nimmt weiter zu. Dieser Wildwuchs ist beunruhigend, weil vielen unerfahrenen Gruppen weltweit ermöglicht wird, nun selbst Entscheidungen über die Herstellung und Isolierung von Chimären oder natürlichen zoonotischen Viren zu treffen.

Mit "unerfahren" meine ich, dass dieser Forschungsgruppen Erkenntnisse und Techniken auf dem Gebiet der Coronaviren anwenden, aber dabei vielleicht mit weniger Respekt vor dem inhärenten Risiko herangehen, das von dieser Gruppe von Krankheitserregern ausgeht. Derzeit werden Chimären für die sogenannten Variants of Concern [etwa die Delta-Variante, Anm. d. Red.] hergestellt – und jede dieser Chimären liefert neue Erkenntnisse über die Übertragbarkeit und Pathogenese beim Menschen.

Also trägt das Virus selbst zum Gain-of-Function-Wissen bei?

Das Virus ist ein Meister darin, bessere Wege zu finden, um im menschlichen Körper erfolgreicher zu werden. Und jede dieser SARS-CoV-2-Varianten übertrifft die alten Varianten und offenbart die zugrunde liegende Genetik, die die höhere Übertragbarkeit und/oder Pathogenese reguliert. Und diese Informationen werden in Echtzeit und am Menschen gewonnen, im Gegensatz zu dem besagten [und umstrittenen, Anm. d. Red.] Vogelgrippe-Übertragungsszenario, das unter kontrollierten künstlichen Bedingungen an Frettchen durchgeführt wurde. Ich würde behaupten, dass diese in Echtzeit gewonnenen Fähigkeiten relevanter und vielleicht auch beunruhigender sind als die Forschung, die in Tiermodellen unter Hochsicherheitsbedingungen durchgeführt wurde.

Mit unseren heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten kann jedes neu auftretende Virus, das in der Zukunft einen Ausbruch verursacht, mit großer Granularität untersucht werden. Das ist bislang beispiellos. Jedes dieser Viren könnte ein Rezept für eine potenzielle "Dual Use"-Verwendung liefern. [Biologische "Dual Use"-Forschung ist Forschung, die sowohl zur Entwicklung von Therapien als auch zur Herstellung von Biowaffen eingesetzt werden könnte, Anm. d. Red.]

Gibt es noch etwas, das Sie nachts wach hält?

Die Anzahl zoonotischer Coronaviren, die sich anschicken, die Artengrenze zu überspringen, gibt Anlass zu großer Sorge. Das wird nicht weggehen. Außerdem ist die Biologie dieser Virusart so beschaffen, dass die Virulenz wahrscheinlich eher noch zunehmen als abnehmen wird, zumindest auf kurze Sicht.

Warum ist das so?

Die Übertragung findet früh statt, während schwere Erkrankungen erst spät auftreten, nachdem das Virus aus dem Körper ausgeschieden wurde. Das bedeutet, dass Übertragung, schwere Krankheit und Tod biologisch teilweise entkoppelt sind. Folglich schadet es dem Virus nicht, seine Virulenz zu erhöhen. Wenn Sie zu den Menschen gehören, die dem Impfstoff abwartend gegenüber stehen, steigt Ihr Risiko mit jeder neuen Variante. Diese Varianten sind gefährlich. Sie wollen sich vermehren und ausbreiten und zeigen eine erhöhte Pathogenese, sogar bei jüngeren Erwachsenen. Sie kümmern sich wenig um die Gesundheit der Menschen oder das Wohlergehen ihrer Familien. Sie sollten sich also impfen lassen.

Das ist das Traurigste an dieser Pandemie. Damit unser öffentliches Gesundheitswesen wirksam reagieren kann, müssen wir als nationale und globale Gemeinschaft mit einer Stimme sprechen. Wir müssen an unser Gesundheitssystem und seine Möglichkeiten glauben. Politik hat in einer Pandemie nichts zu suchen, aber genau das ist es, was wir am Ende dann hatten – politisch motivierte Botschaften, die nicht mit einer Stimme sprachen.

Wie hat sich das für die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewirkt? Waren Coronatests schnell verfügbar? Nein! Haben wir die zwei bis drei Monate von Januar bis März 2020 genutzt, um die Krankenhäuser mit persönlicher Sicherheitsausrüstung oder Atemschutzmasken auszustatten? Nein. Vielmehr erhielten die Amerikaner von der Regierung die Mitteilung, dass das Virus nicht gefährlich sei, dass es wieder verschwinden werde oder dass es im Sommer abstirbt. Es gab Gerüchte, dass das Tragen von Masken schädlich sei – oder dass unbewiesene Medikamente ein Wundermittel darstellten.

Manche sagen, die wahre Tragödie seien die Hunderttausende von Amerikanern, die nicht hätten sterben müssen, weil die fantastischste Nation der Erde nicht einheitlich und wissenschaftlich fundiert auf eine Pandemie reagiert hat. Taiwan reagierte mit einheitlichen Regeln im öffentlichen Gesundheitswesen und verzeichnete anfangs nur eine Handvoll Infektionen und wenige Todesfälle. Die USA waren weltweit an der Spitze bei den Corona-Toten und der Zahl der Erkrankungen. Warum werden die Versäumnisse, die zum Tod von Hunderttausenden von Amerikanern geführt haben, nicht gründlich untersucht?

(bsc)