Verkehrsforscherin: "Für Human Factors ist Level 3 die größte Problemstufe"

Der Schritt vom teil- zum hochautomatisierten Fahren schafft (von Level 2 auf 3) ganz neue Herausforderungen für die Schnittstelle von Mensch und Maschine.

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Autonomes Fahren

Prototyp für autonomes Fahren.

(Bild: dpa, Daniel Naupold/Illustration)

Lesezeit: 4 Min.
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Im vergangenen Jahr hat Mercedes die ersten "hochautomatisierten" Serienfahrzeuge ("Level 3") auf den Markt gebracht. Erst ab diesem Level 3 darf man sich während der Fahrt wirklich entspannen oder anderen Dingen widmen: E-Mails schreiben, lesen, Spiele zocken – zumindest, solange man in der Lage ist, innerhalb von zehn Sekunden die Kontrolle zu übernehmen. Trotz irreführender Marketingbezeichnungen wie "Autopilot" und "Full Self Driving" bietet Tesla bisher nur bessere Assistenzsystem auf Level 2 an. Das bedeutet: Der Fahrer trägt die volle Verantwortung und muss sein Fahrzeug stets selbst überwachen.

Weitere deutsche Hersteller wie Audi, BMW und Porsche dürften schon bald mit eigenen Level-3-Modellen nachziehen. Anschließend werden diese Systeme wohl von der Oberklasse in die preiswerteren Segmente durchsickern. Doch damit muss auch das Verhältnis von Mensch zu Maschine neu austariert werden, wie das Magazin MIT Technology Review in seiner aktuellen Ausgabe 2/2023 schreibt.

"Aus Sicht des Human Factors ist Level 3 die größte Problemstufe", sagt Nadja Schömig vom Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften. Sie hat in unzähligen Versuchsstunden im Fahrsimulator erforscht, wie Menschen mit Assistenzsystemen umgehen. Eine zentrale Frage dabei ist: Reichen die vorgeschriebenen zehn Sekunden aus, um den Fahrer "zurück in den Loop" zu holen, wie es im Branchenjargon heißt?

Um das herauszufinden, lenkt sie ihre Probanden gezielt ab, etwa durch Gedächtnisaufgaben oder Tetris. Dann misst sie, wie lange sie brauchen, um etwa bei einer plötzlich auftauchenden Baustelle wieder die Kontrolle zu übernehmen. Unter dem Strich hält sie die vorgeschriebenen zehn Sekunden für "durchaus akzeptabel" – wenn sich der Fahrer an die Regeln hält. "Schlafen ist auf keinen Fall erlaubt", sagt Schömig. Dies zu erkennen, ist für moderne Fahrzeugelektronik eine der einfacheren Übungen. Schon bei Level 2 überwachen Innenkameras oder Lenkradsensoren, ob der Fahrer bei der Sache ist.

MIT Technology Review 2/2023

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Doch wo genau verläuft bei Level 3 die Grenze zwischen erlaubter und unerlaubter Ablenkung? Kompliziert wird es beispielsweise, wenn der Fahrer etwas in der Hand hält. "Ein Handy, ein Tablet oder eine Zeitung kann man zur Not noch in den Schoß legen oder auf den Beifahrersitz werfen", sagt Schömig. "Aber bei einem Döner wird es schwierig." Das Ganze sei eine Gratwanderung: "Eigentlich will man den Fahrer ja aus dem Loop lassen – aber irgendwie auch drin halten."

Die Zulassungsregularien schreiben lediglich vor, dass Hersteller laufend anhand von bislang nicht genauer spezifizierten Kriterien überwachen müssen, ob der Fahrer verfügbar ist – etwa ein regelmäßiger Blick auf die Straße –, und dass mindestens zwei dieser Kriterien erfüllt sein müssen. Das bedeutet: Die Fahrzeugelektronik muss nicht nur laufend die Vorgänge außerhalb des Autos richtig interpretieren, sondern auch die im Inneren. "Das ist derzeit noch die größte Forschungsproblematik – wie kann eine Software in Echtzeit vorhersagen, dass ein Fahrer rechtzeitig bereit ist, wenn eine Übernahmeaufforderung kommt?", sagt Schömig.

Eine Lösung wäre beispielsweise, dem Fahrer regelmäßig Fahrmanöver zu überlassen, die das System auch selbst machen könnte, oder die Zustimmung zu solchen Manövern einzufordern. Doch damit wäre es schon wieder vorbei mit der ungestörten Ruhe.

Bei Mercedes beobachtet eine Kamera im Display den Kopf und die Augenlider des Fahrers. Zudem werden die Sensoren zur Sitzbelegung ausgewertet. Was der Fahrer darf und was nicht, wird ihm bei der Fahrzeugübergabe, in der Bedienungsanleitung, mit diversen Animationen und Grafiken nahegebracht. "Schlafen, dauerhaft nach hinten blicken oder gar den Fahrersitz verlassen sind nicht zulässig", so Mercedes-Sprecher Alexandros Mitropoulos.

Die ganze Datenverarbeitung laufe ausschließlich an Bord, nichts davon werde nach außen übertragen. Erkennt die Fahrzeugelektronik, dass ein Fahrer offensichtlich nicht zur Übernahme bereit ist, oder fordert sie ihn vergeblich zur Übernahme auf, folgt eine optische und akustische Warnung. Dann rüttelt sie am Gurt. Reagiert der Fahrer immer noch nicht, hält das Fahrzeug kontrolliert an.

(grh)