Wie inverse Impfungen Autoimmunkrankheiten stoppen könnten

Eine dämpfend wirkende Vakzine hat die überreaktive Abwehr von Mäusen mit Multipler Sklerose umprogrammiert. Sie greift die Nervenummantelung nicht mehr an.​

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(Bild: FabrikaSimf/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
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Eine neue Impfstrategie soll das Immunsystem nicht auf Keime aufmerksam machen, sondern es im Gegenteil dazu bringen, vermeintliche Feinde zu vergessen. Solche inversen Impfungen könnten Autoimmunkrankheiten stoppen und sogar rückgängig machen, bei denen der Körper fälschlich eigene Zellen oder Zellstrukturen angreift. Genau das ist US-Forschern um Jeffrey Hubbel und Scott Wilson von der University of Chicago in Versuchen mit Mäusen gelungen, die an einer Multiple-Sklerose-ähnlichen Krankheit litten. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachjournal "Nature Biomedical Engineering".

Normalerweise bringen Impfungen dem Immunsystem bei, welche fremden Moleküle es angreifen soll. Erkennt es diese dann auf Bakterien oder Viren, geht es gegen die Eindringlinge vor. Manchmal greift die Abwehr allerdings – genauer gesagt bestimmte T-Zellen – irrtümlich den eigenen Körper an. Dann entstehen sogenannte Autoimmunkrankheiten: Bei Typ-1-Diabetes zerstört das Immunsystem die insulinproduzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse, bei Multipler Sklerose greift es die Ummantelung von Nervenfasern an. Diese Myelinschicht ist für die Reizleitung zu den Muskeln wichtig. Wird sie zerstört, kommt es zu Bewegungsstörungen und schließlich auch Lähmungen.

Autoimmun-Erkrankungen lassen sich bisher weder heilen noch aufhalten. Allerhöchstens kann man den Verlauf verlangsamen. Dazu sind manchmal Immunsuppressiva nötig, also Medikamente, die das Immunsystem auf breiter Front und damit sehr unspezifisch herunterregeln. Das aber macht Patienten anfällig gegen Infektionen und Krebs.

Hubbels Gruppe hatte sich deshalb schon vor einigen Jahren vom Körper abgeschaut, wie er Immunreaktionen gegen eigene Zellbestandteile verhindert. Werden zum Beispiel alte Zellen aussortiert und abgebaut, sollen ihre Bruchstücke – die nicht mehr wie eine normale Zelle aussehen – die Abwehr nicht triggern. Verhindert wird das durch eine Art molekulares Etikett auf den Bruchstücken, auf dem sinngemäß steht: "nicht angreifen".

Dieses Etikett besteht aus einem Zuckerrest mit dem Kurznamen pGal. Abwehrzellen des angeborenen Immunsystems lernen während ihrer Ausbildung in der Leber, mit pGal versehene Moleküle zu tolerieren. Gesunde Zellen tragen ähnliche, etwas längere Zucker-Etiketten. Sterben die Zellen irgendwann ab, verkürzt ein Enzym diesen längeren Zucker zu pGal. Grundsätzlich muss der Körper lernen, verschiedene Stoffe, denen wir häufig begegnen, zuverlässig zu tolerieren: etwa Lebensmittel, hilfreiche Bakterien im Darm und Pollen.

"Wir dachten also, meine Güte, wenn wir das [pGal] synthetisieren können und es an verschiedene Antigene anhängen, dann müsste das ebenfalls für periphere Toleranz sorgen“, sagt Hubbel. In einem früheren Versuch hatte das Team bei Mäusen die Entstehung von Typ-1-Diabetes mithilfe des pGal-Etiketts verhindert. Nun wollte es wissen, ob auch eine bereits laufende Autoimmunerkrankung beeinflusst werden kann.

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Das Team kombinierte pGal mit verschiedenen Myelin-Eiweißen und verabreichte diesen inversen Impfstoff Versuchsmäusen, die an einer Multiple-Sklerose-ähnlichen Krankheit litten. Dabei führt die Zerstörung der Myelinschicht sukzessive zu Problemen wie Muskelschwächen und Taubheit, Verlust des Sehvermögens und schließlich zu Mobilitätsproblemen und Lähmungen. Nach der Behandlung mit dem inversen Impfstoff aber stellte das Immunsystem der Nager seine Angriffe auf das Myelin ein. Die Nerven konnten wieder richtig funktionieren und die Krankheitssymptome gingen zurück.

Ob das auch bei Menschen so funktionieren würde, ist noch nicht klar. Die Mausbehandlung erfolgt mit fünf bis sieben Tagen nach Krankheitsbeginn immer noch recht früh. Es müsste also getestet werden, ob sich die Krankheit auch in einem weit vorangeschrittenerem Stadium aufhalten und umkehren lässt.

Zudem sei Multiple Sklerose eine komplexe Krankheit, bei der sich die schädliche Immunreaktion nicht nur gegen ein Antigen richtet, sagte Lawrence Steinman von der Stanford University gegenüber der US-Ausgabe von Technology Review. Solle man trotzdem auf ein Hauptantigen setzen oder Mischungen gegen mehrere entwickeln? Der Neuroimmunologe forscht seit mehr als 15 Jahren an inversen Impfstoffen und entwickelt gerade ein inverses DNA-Vakzin gegen Multiple Sklerose. Dieses soll das Immunsystem nicht gegen Myelin tolerant machen, sondern seine Reaktion auf ein Molekül auf dem Epstein-Barr-Virus herunterregeln. Das Virus gilt als sehr wahrscheinlicher Auslöser der neurodegenerativen Erkrankung.

Die Forscher um Hubbel hoffen, dass ihre inverse Impfstoff-Strategie nicht nur gegen Multiple Sklerose, sondern auch gegen zahlreiche Autoimmun-Erkrankungen helfen könnte. Tatsächlich hat Hubbel bereits 2010 das Schweizer Startup Anokion mitgegründet, das genau solche Vakzine entwickelt. Der Kandidat gegen schubförmig-remittierende Multiple Sklerose wird derzeit in einer Phase-1-Sicherheitsstudie untersucht. Ein zweiter Impfstoff gegen Zöliakie, einer durch Glutenunverträglichkeit verursachten Autoimmunerkrankung des Dünndarms, befindet sich bereits in einer Phase-2-Studie, die auch die Effektivität prüft. Er soll zur Toleranz von Gluten verhelfen. Der dritte Kandidat gegen Typ-1-Diabetes steckt noch in der vorklinischen Prüfung.

Die Idee inverser Impfungen ist nicht neu. Forscher arbeiten schon seit Jahrzehnten an verschiedenen Ideen, bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Zuletzt hatte das deutsche Biotech-Unternehmen BioNTech 2021 mit Forschern der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität im Fachjournal "Science" über vielversprechende Mausversuche mit einem Boten-RNA- (mRNA-) Impfstoff gegen Multiple Sklerose berichtet. "Der Impfstoff verzögerte den Krankheitsbeginn und reduzierte die Krankheitsschwere bei bereits etablierter Krankheit", schrieben die Autoren.

Bemerkenswert ist, dass die Immuntoleranz wahrscheinlich über die Lipid-"Verpackung" um den mRNA-Impfstoff ausgelöst wurde. Diese Verpackung ist im Falle der Covid-19-Impfung so designt, dass sie das Immunsystem anregt. Beim Multiple-Sklerose-Impfstoff aber wirkte sie offenbar immundämpfend.

(jle)