Wie virtuelle Kraftwerke das Energiesystem verbessern könnten

Sogenannte VPPs könnten Elektroautos, Heimbatterien und smarte Heimtechnik koordinieren – für ein saubereres Stromnetz. In den USA kommen einige VPPs hinzu.

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Kraftwerk

Abgasfahne ĂĽber dem Kraftwerk Bremen-Hastedt.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • June Kim
Inhaltsverzeichnis

Seit mehr als einem Jahrhundert stellt man sich ein Kraftwerk als ein Gebäude mit hohen Schornsteinen und sich laut drehenden Turbinen vor, das mit Kohle, Gas oder Öl beschickt wird. Doch diese Vorstellung ist veraltet. Die Kraftwerke, die die Energie der Zukunft liefern, werden ganz anders aussehen – und viele von ihnen haben vielleicht gar keine physische Form: Willkommen in der Ära der virtuellen Kraftwerke (VPPs, virtual power plants)!

Der Wechsel von konventionellen Energiequellen wie Kohle und Gas zu variablen erneuerbaren Alternativen wie Sonne und Wind bedeutet, dass sich die jahrzehntealte Art und Weise, wie wir unser Energiesystem betreiben, verändert. Sowohl Regierungen als auch private Unternehmen wollen das Potenzial von VPPs nutzen, um Kosten zu verringern und eine Überlastung des Netzes zu verhindern. Doch wie arbeitet die Technik?

Ein virtuelles Kraftwerk ist ein System dezentraler Energieressourcen – wie Solarzellen auf dem Dach, Ladestationen für Elektrofahrzeuge oder intelligente Warmwasserbereiter oder Wärmepumpen, die kooperiert vorgehen, um Energieangebot und -nachfrage untereinander auszugleichen. Sie werden in der Regel von lokalen Energieversorgungsunternehmen betrieben, die das Gesamtsystem überwachen. Laut Rudy Shankar, Direktor des Instituts für Energiesystemtechnik der Lehigh University, sei ein VPP eine Möglichkeit, ein Ressourcenportfolio zusammenzustellen, das dem Netz helfen kann, auf hohe Energienachfrage zu reagieren und gleichzeitig den CO₂-Fußabdruck des gesamten Energiesystems zu verringern.

Das "Virtuelle" an einem VPP ergibt sich aus dem Fehlen einer zentralen physischen Anlage wie bei einem traditionellen Kohle- oder Gaskraftwerk. Durch die Erzeugung von Strom und den Ausgleich der Energielast übernehmen gebündelte Einheiten wie Batterien und Sonnenkollektoren viele der Funktionen herkömmlicher Kraftwerke. Sie haben aber auch neue Vorteile. Kevin Brehm, Manager am Rocky Mountain Institute, der sich auf klimaneutrale Elektrizitätserzeugung konzentriert, sagt, dass der Vergleich von VPPs mit herkömmlichen Kraftwerken nur eine "hilfreiche Analogie" ist. VPPs "machen bestimmte Dinge anders und können daher Dienste anbieten, die herkömmliche Kraftwerke nicht beherrschen".

Ein wichtiger Unterschied zu konventionellen Anlagen ist die Fähigkeit von VPPs, den Energieverbrauch der Verbraucher in Echtzeit zu beeinflussen. Anders als herkömmliche Kraftwerke können VPPs mit dezentralen Energieressourcen auch kommunizieren und Netzbetreibern erstmals ermöglichen, die Nachfrage der Endverbraucher zu steuern. Intelligente Thermostate, die mit Klimaanlagen verbunden sind, können etwa die Temperatur im Haus regeln und den Stromverbrauch der Anlagen steuern. An heißen Sommertagen können diese Thermostate die Wohnungen vor den Spitzenzeiten, in denen der Verbrauch der Klimaanlagen in die Höhe schießt, beispielsweise vorkühlen. Die Staffelung der Kühlzeiten kann dazu beitragen, plötzliche Nachfragespitzen zu vermeiden, die das Stromnetz überlasten und zu Ausfällen führen könnten. In ähnlicher Weise sollen sich Ladeanlagen für Elektrofahrzeuge an die Anforderungen des Netzes anpassen, indem sie entweder Strom aus dem Autoakku liefern oder diesen beziehen.

Die dezentralen Energiequellen sind über Kommunikationstechnologien wie WLAN, Bluetooth und Mobilfunkdienste mit dem Netz verbunden. Insgesamt kann die Nutzung von VPPs die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems erhöhen. Durch die Koordinierung von Hunderttausenden von Geräten haben VPP dann einen bedeutenden Einfluss auf das Netz – sie steuern die Nachfrage, liefern Strom und sorgen schließlich dafür, dass der Strom zuverlässig fließt.

Bis in jüngster Vergangenheit wurden VPPs hauptsächlich zur Steuerung des Energieverbrauchs von Verbrauchern eingesetzt. Da sich aber die Solar- und Batterietechnologie weiterentwickelt hat, können Versorgungsunternehmen sie mittlerweile nutzen, um bei Bedarf wieder Strom in das Netz einzuspeisen. In den Vereinigten Staaten schätzt das Energieministerium die Kapazität von VPPs auf derzeit etwa 30 bis 60 Gigawatt. Dies entspricht etwa 4 bis 8 Prozent des landesweiten Spitzenstrombedarfs, also einem eher geringen Anteil am Gesamtsystem. Einige Bundesstaaten und Energieversorgungsunternehmen sind jedoch dabei, ihre Netze schnell um weitere VPPs zu erweitern.

Green Mountain Power, das größte Energieversorgungsunternehmen im US-Bundesstaat Vermont, machte letztes Jahr Schlagzeilen, als es ein Heimbatterieprogramm ausweitete. Kunden hatten die Möglichkeit, einen großen Tesla-Akku zu einem vergünstigten Preis zu leasen oder einen eigenen zu kaufen, wobei sie eine Unterstützung von bis zu 10.500 Dollar erhielten, wenn sie sich bereit erklärten, die gespeicherte Energie mit dem Stromunternehmen zu teilen. Die Vermont Public Utility Commission, die das Programm genehmigt hat, sagt, es könne auch Notstrom bei Stromausfällen liefern.

In Massachusetts wiederum haben drei Energieversorgungsunternehmen (National Grid, Eversource und Cape Light Compact) ein VPP-Programm eingeführt, bei dem Kunden dafür bezahlt werden, dass sie die Kontrolle über ihre Hausbatterien abgeben. In Colorado laufen unterdessen Bemühungen, das erste VPP-System des Staates einzuführen: Die Colorado Public Utilities Commission drängt Xcel Energy, den größten Energieversorger des Bundesstaates, bis zum Sommer dieses Jahres ein voll funktionsfähiges Pilotprojekt zu entwickeln.

Netzbetreiber müssen die jährliche oder tägliche "Spitzenlast", also den Moment der höchsten Stromnachfrage, stets decken. Um dies zu erreichen, greifen sie häufig auf gasbetriebene Spitzenlastkraftwerke zurück, die die meiste Zeit des Jahres inaktiv sind und in Zeiten hoher Nachfrage zugeschaltet werden können. VPPs werden die Abhängigkeit der Netze von diesen Kraftwerken verringern, hofft man. Das US-Energieministerium strebt derzeit an, die nationale VPP-Kapazität bis 2030 auf 80 bis 160 GW zu erhöhen. Das entspricht etwa 80 bis 160 fossilen Kraftwerken, die nicht gebaut werden müssen, sagt Experte Brehm.

Viele Versorgungsunternehmen hoffen, dass VPPs nicht nur die Emissionen, sondern auch die Energierechnungen der Verbraucher senken können. Untersuchungen haben ergeben, dass die Nutzung dezentraler Energiequellen bei Nachfragespitzen um bis zu 60 Prozent kostengünstiger ist als die Nutzung von Gaskraftwerken.

Ein weiterer bedeutender, wenn auch weniger greifbarer Vorteil von VPPs ist, dass sie die Menschen dazu ermutigen, sich stärker am Energiesystem zu beteiligen. Normalerweise erhalten Kunden lediglich Strom. In einem VPP-System verbrauchen sie sowohl Strom, speisen ihn aber auch wieder zurück. Diese Doppelrolle könnte ihr Verständnis für das Netz verbessern und sie dazu bringen, sich stärker für den Übergang zu sauberer Energie zu engagieren.

Die Kapazität dezentraler Energiequellen nimmt nach Ansicht des US-Energieministeriums aufgrund der weit verbreiteten Einführung von Elektrofahrzeugen, den dafür notwendigen Ladestationen und intelligenten Hausgeräten rasch zu. Der Anschluss dieser Systeme an VPP-Systeme verbessert die Fähigkeit des Netzes, Stromnachfrage und -angebot in Echtzeit auszugleichen. Verbesserte Künstliche Intelligenz kann VPPs auch dabei helfen, Anlagen genauer zu koordinieren, so Energiesystemtechniker Shankar.

Auch die US-Regulierungsbehörden sind mit an Bord. Die National Association of Regulatory Utility Commissioners hat damit begonnen, Panels und Workshops zu veranstalten, um ihre Mitglieder über VPPs und deren Umsetzung in ihren Staaten zu informieren. Die kalifornische Energiekommission wird Forschungsarbeiten finanzieren, um die Vorteile der Integration von VPPs in ihr Netz zu untersuchen. Diese Art von Interesse seitens der Regulierungsbehörden ist neu, aber vielversprechend, sagt Brehm.

Dennoch gibt es noch Hürden. Die notwendige Anmeldung, Teil eines VPP zu werden, kann für die US-Verbraucher verwirrend sein, da das Verfahren je nach Staat und Unternehmen unterschiedlich ist. Eine Vereinfachung würde den Versorgern helfen, dezentrale Energieressourcen wie E-Fahrzeuge und Wärmepumpen optimal zu nutzen. Eine Standardisierung bei der Einführung von VPPs kann auch ihr Wachstum auf nationaler Ebene beschleunigen, da es einfacher würde, erfolgreiche Projekte in anderen Regionen zu wiederholen. "Es kommt wirklich auf die Politik an", sagt Brehm. "Die Technologie ist vorhanden. Wir lernen immer noch, wie man diese Lösungen am besten umsetzt und wie man mit den Verbrauchern kooperiert."

(jle)