Edit Policy: Digital Services Act entgleist im Europaparlament

Seite 2: Gefährlicher als das Netzwerkdurchsetzungsgesetz

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Strikte Löschfristen für illegale Inhalte sind bereits aus dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) bekannt. Dennoch sind die auf EU-Ebene diskutierten Vorschläge in vielerlei Hinsicht gefährlicher. Erstens ist die Verpflichtung zur Sperrung von gemeldeten Inhalten binnen 24 Stunden nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz auf offensichtlich rechtswidrige Inhalte und auf einige wenige große Plattformen beschränkt. In dem Vorschlag der Verhandlungsführerin des Europaparlaments sind solche Beschränkungen nicht vorgesehen.

Zweitens unterscheiden sich die Folgen bei einem Verstoß gegen die Löschfristen zwischen NetzDG und Digital Services Act erheblich. Das NetzDG sieht Geldstrafen vor, wenn eine Plattform systematisch gegen die Vorgaben des Gesetzes verstößt. Das bedeutet im Klartext, dass ein einmaliges Überschreiten der 24-Stunden-Frist nicht automatisch zu einer Bestrafung führt. Im geplanten Digital Services Act werden die Löschfristen dagegen zur Voraussetzung für die Haftungsbeschränkung von Plattformen: Für Inhalte, die die Plattform nicht binnen 24 Stunden nach einem Hinweis gesperrt hat, ist der Plattformbetreiber selbst haftbar, so als hätte er die illegale Handlung selbst begangen. Beim Urheberrecht bedeutet das beispielsweise, dass der Plattform horrende Schadensersatzforderungen drohen, und zwar für jeden einzelnen betroffenen Inhalt. Die Anreize, alle gemeldeten Inhalte einfach ungesehen zu sperren, sind hier viel größer als noch beim NetzDG.

Auch an anderer Stelle will die Berichterstatterin des Europaparlaments Plattformen für Fehlverhalten bestrafen, indem sie sie unmittelbar für Rechtsverletzungen ihrer Nutzer:innen haftbar macht – beispielsweise wenn die Plattformen gegen Transparenzpflichten verstoßen. So wichtig Transparenz auch ist, birgt diese Vorgehensweise große Gefahren. Zu Rechtsverletzungen durch Plattformen kann es immer kommen, eine angemessene Reaktion darauf ist eine strikte Marktüberwachung und die Verhängung von Geldstrafen, die durchaus auch hoch ausfallen dürfen. Doch wenn bei einer beliebigen Regelverletzung durch Plattformen gleich der Verlust des Haftungsausschlusses droht, schafft der Gesetzgeber dadurch einen Anreiz für Plattformen, das Verhalten ihrer Nutzer:innen durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz möglichst feinmaschig zu kontrollieren. Dabei ist längst bekannt, dass solche Systeme hohe Fehlerquoten aufweisen und auch reihenweise völlig unverdächtige, legale Inhalte sperren – auch das haben die Enthüllungen der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen jüngst noch einmal unterstrichen.

Der Rechtsausschuss sieht vor, dass Organisationen der Unterhaltungsindustrie als sogenannte "Trusted Flagger" anerkannt werden können, die eigenständig die sofortige Sperrung von Inhalten auf Plattformen erwirken können sollen und lediglich einmal im Jahr Rechenschaft darüber ablegen müssen, welche Inhalte davon betroffen waren. Diese Regelung öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Selbst Plattformen, die nach der Urheberrechtsreform noch nicht zum Einsatz von Uploadfiltern gezwungen sind, würden dann die Sperrforderungen der "Trusted Flagger" automatisiert umsetzen, die wiederum mit hoher Sicherheit auf fehleranfällige Filtersysteme zurückgreifen würden, um angebliche Urheberrechtsverletzungen ausfindig zu machen.

Endgültig absurd wird die Position des Rechtsausschusses, wenn dieser sich an eine Neudefinition des Haftungsausschlusses macht. Von diesem sollen Hosting-Provider nur noch dann profitieren können, wenn sie sich gegenüber den hochgeladenen Inhalten völlig neutral verhalten, also noch nicht einmal durch den Einsatz von Suchfunktionen oder Empfehlungsalgorithmen in die Präsentation der Inhalte eingreifen. Wenn sich diese Position durchsetzt, wären nur noch reine Webhoster vom Haftungsausschluss umfasst. Alle modernen Plattformen wären direkt für Rechtsverletzungen ihrer Nutzer:innen haftbar – auch die Wikipedia, GitHub oder Dropbox, die bei der Urheberrechtsreform nach lauten Protesten aus der Internetcommunity von Artikel 17 ausgenommen wurden. Der Vorschlag des Rechtsausschusses würde den Betrieb von Online-Plattformen in der EU schlichtweg unmöglich machen.

Und auch das Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das Paradebeispiel für Klientelpolitik im Urheberrecht, spielt in der Debatte um den Digital Services Act erneut eine Rolle. Beim Rechtsausschuss haben die Presseverlage ein offenes Ohr für ihre Forderung nach einer Sonderbehandlung von Presseinhalten auf sozialen Medien gefunden. Der Ausschuss fordert, dass große Plattformen wie Facebook die Inhalte von Presseverlagen künftig nicht mehr sperren dürfen – selbst wenn diese offensichtliche Desinformation enthalten oder gegen Geschäftsbedingungen verstoßen.

Der Zweck dieser Regelung ist klar – auch wenn der Rechtsausschuss behauptet, sie diene dem Schutz von Meinungsfreiheit und Medienpluralismus, handelt es sich hier um einen weiteren Versuch, das Leistungsschutzrecht durchzusetzen. Wenn die Nutzung von Presseartikeln durch Plattformen nach dem Leistungsschutzrecht kostenpflichtig ist, den Plattformen aber gleichzeitig durch den Digital Services Act verboten wird, Presseartikel zu sperren, dann bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als die Artikel anzuzeigen und dafür auch noch zu zahlen. Für die Verlage ist das eine Lizenz zum Gelddrucken. In ihrem Kreuzzug für das Leistungsschutzrecht sorgen die Verlage aber dafür, dass Plattformen Desinformation nichts mehr entgegensetzen können, solange sie nur in einer Pressepublikation stattfindet. Dass eine solche Regelung gefährlich ist, verraten nicht erst die Enthüllungen um Fake-Nachrichtenangebote, die für Propaganda rund um autokratische Regime genutzt werden. Es reicht ein Blick in die Boulevardpresse, um zu verstehen, dass die Publikation eines Artikels durch einen Presseverlag kein Garant für Qualität, Wahrheit oder auch nur die Einhaltung grundlegender zwischenmenschlicher Verhaltensregeln ist.

Noch hat das Europaparlament Zeit, seinem Ruf als Garant der Grundrechte gerecht zu werden. Doch wenn die Verhandlungen um den Digital Services Act nicht noch eine Kehrtwende nehmen, droht dieses Gesetz die Probleme mit Online-Plattformen noch zu verschärfen, anstatt zu ihrer Lösung beizutragen.

Die Texte der Kolumne "Edit Policy" stehen unter der Lizenz CC BY 4.0.

(bme)