Edit Policy: Digital Services Act entgleist im Europaparlament
Beim Digital Services Act, dem Gesetzesvorhaben der EU zur Regulierung von Online-Plattformen, gehen die gefährlichsten Vorschläge vom Europaparlament aus.
Es ist ein bekanntes Muster der Netzpolitik – die EU-Kommission macht einen Vorschlag, der die digitalen Grundrechte bedroht. Die Zivilgesellschaft mobilisiert daraufhin Proteste und setzt auf das direkt gewählte Europaparlament, um das Schlimmste zu verhindern. Doch ausgerechnet beim Digital Services Act, dem wichtigsten Gesetzesvorhaben der EU zur Regulierung von Online-Plattformen, gehen die gefährlichsten Vorschläge nun vom Europaparlament selbst aus, nachdem der Gesetzesentwurf der EU-Kommission erstaunlich grundrechtsfreundlich ausgefallen war. Offenbar hat das Europaparlament aus dem Debakel um Artikel 17 der Urheberrechtsrichtlinie nichts gelernt. Es droht ein dystopisches Regelwerk, das den flächendeckenden Einsatz von fehleranfälligen Uploadfiltern befördert, der Unterhaltungsindustrie die Sperrung von Inhalten auf Knopfdruck erlaubt und der Desinformation durch Boulevardmedien auf Social Media Vorschub leistet.
Abstimmung zum Digital Services Act verschoben
Eigentlich hätte der federführende Binnenmarktausschuss an diesem Montag über seine Position zum Digital Services Act abstimmen sollen, um Verhandlungen mit Kommission und Rat aufnehmen zu können. Stattdessen steht eine Anhörung der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen auf der Tagesordnung. Der eigentliche Grund für die Verschiebung der Abstimmung ist aber Uneinigkeit unter den Abgeordneten über die Grundsätze der Plattformregulierung. Immer mehr Vorschläge finden im Europaparlament Unterstützung, die eine vollständige Abkehr vom bewährten System der begrenzten Haftung für Internetdienste bedeuten würden und unsere Kommunikationsfreiheiten im Netz bedrohen.
Der Digital Services Act ist Mutter aller Plattformgesetze. Der Gesetzesentwurf soll im Gegensatz zu Artikel 17 nicht nur die Haftung für Urheberrechtsverletzungen auf ausgewählten kommerziellen Plattformen regeln – sondern die Haftung für alle illegalen Aktivitäten von Nutzer:innen auf allen Arten von Hosting-Providern, von Facebook bis zum nicht kommerziellen Hobby-Diskussionsforum. Auch wenn Plattformen Inhalte auf Basis ihrer allgemeinen Geschäftsbedingungen sperren, soll der Digital Services Act dafür grundlegende Regeln definieren, um die Rechte der Nutzer:innen vor willkürlichen Entscheidungen zu stärken. Angesichts des ausgewogenen Entwurfs durch die EU-Kommission ist umso erstaunlicher, was für drastische Grundrechtseinschränkungen im Europaparlament nun salonfähig werden. Die folgenden drei Vorschläge gehören dabei zu den gefährlichsten.
Unterhaltungsindustrie will Sperrfristen von 30 Minuten
Bisher haften Plattformen nicht für illegale Uploads ihrer Nutzer:innen, solange sie diese unverzüglich entfernen, nachdem sie Kenntnis über eine Rechtsverletzung erlangt haben. Wie schnell eine Löschung vorgenommen werden muss, hängt vom Einzelfall ab – beispielsweise davon, ob eine Rechtsverletzung infolge eines Hinweises eindeutig feststellbar ist. Gerichte beraten oft jahrelang, ob eine bestimmte Äußerung beispielsweise eine rechtswidrige Beleidigung darstellt. In solchen Grenzfällen kann es keinem Unternehmen zugemutet werden, in kürzester Zeit über eine Sperrung zu entscheiden. Deshalb hat der europäische Gesetzgeber in der Vergangenheit auf strikte Löschfristen verzichtet.
Das soll sich nun ändern: Die Berichterstatterin des Europaparlaments für den Digital Services Act, die Dänin Christel Schaldemose, verlangt von Plattformen eine Sperrung illegaler Inhalte binnen 24 Stunden, sofern die Inhalte eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Ab wann genau ein Upload auf sozialen Netzwerken die öffentliche Ordnung bedroht, ist dabei so unklar, dass Plattformen kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als Inhalte auf Zuruf nach 24 Stunden zu sperren.
Der mitberatende Rechtsausschuss, der seine Position zum Digital Services Act bereits verabschiedet hat, geht dabei noch weiter und will vor allem der Unterhaltungsindustrie einen Freifahrtschein ausstellen, die Sperrung von Uploads zu erwirken. Livestreams von Sportveranstaltungen oder Unterhaltungsevents sollen binnen 30 Minuten gesperrt werden, für ähnliche Sonderregelungen hatten Sportverbände auch bereits bei der Urheberrechtsreform lobbyiert. Derart kurze Löschfristen sind nur durch automatisierte Filter zu erreichen – eine Prüfung durch Menschen, ob eine Sperrforderung überhaupt berechtigt ist, kann binnen so kurzer Zeit kaum stattfinden.