Klartext: Mehr Autos, weniger Optionen

Selbst im Krisenjahr steigt der Autobesitz weiter an, obwohl der öffentliche Diskurs sich einig darin ist, dass es weniger sein sollten. Warum eigentlich?

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Das Auto konnte sich etablieren, weil die Alternativen vielfach schwächelten. Das muss nicht so bleiben.

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Clemens Gleich
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Kürzlich machte eine Zählung die Runde: Die Autodichte stieg (oh Wunder) im Krisenjahr 2020 weiter an, mit Ausnahme von Wolfsburg, Ingolstadt und München. Diese Städte werden ihre zu den Werksschließungen ausgesetzten Firmenwagenzulassungen nachholen. Das entspricht den Entwicklungen der jüngsten Jahre: Der Bestand verzeichnet jedes Jahr ein neues Rekordhoch. Oldtimer bleiben beliebt. 2020 erhöhte sich obendrein der Bestand an Reisemobilen aller Art auf einer noch steileren Kurve als bisher weiter. Den Großteil machen natürlich Pkw aus. Die interessante Frage lautet dabei: Warum stieg der Autobesitz weiter an? Der öffentliche Diskurs ist sich doch recht einig, dass es weniger Autos sein sollten!

Vans werden immer beliebter, als Reisemobil-Ausbauten à la California oder Marco Polo, aber auch einfach als Familienauto, in das man Fahrräder schieben kann.

(Bild: Clemens Gleich)

Die Krise verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Zwar fuhren wahrscheinlich viele Leute 2020 lieber mit dem Auto als mit dem Bus zur Arbeit, dafür mussten sie aber auch viel seltener fahren, weil sie oft einfach in ihrer Küche arbeiten konnten oder mussten, je nach Arbeitstauglichkeit des trauten Heims. Zusätzlich boomte der große Pendelkonkurrent: das Fahrrad, elektrisch unterstützt oder rein mit Muskelkraft betrieben. Dass auch 2020 in einer Reihe der Vorjahre im Trend zu mehr Bestand steht, liegt meiner Ansicht nach an einem anderen Umstand: Das Auto funktioniert als Mobilitätslösung gar nicht so schlecht und die Alternativen funktionierten auch 2020 gar nicht mal so gut.

Wenn ich mich in meinen Doomscrolling-Timelines der asozialen Medien umschaue, finde ich viele Bekannte, die das Auto lautstark verteufeln. Ich finde allerdings wenige Bekannte, die das Auto verteufeln und konsequent darauf verzichten. Gerade Radfahrer haben ab einem gewissen Alter (oder vielleicht: Wohlstand) fast sicher ein Auto in der Hinterhand. So konsequent wie c't-Kollege Georg Schnurer mit nur Fahrrad, Fahrradanhänger und gelegentlich Großtaxi handelt kaum jemand. Und bei ihm müssen Sie wissen: Der nächste Supermarkt liegt in unter 200 Metern Entfernung zu seinem Haus.

Schon ein kleines Auto ist den meisten Menschen zu wenig. Ob der Smart zum halben Preis ein Kracher geworden wäre? Ich zweifle.

(Bild: Clemens Gleich)

Ein bis zwei Personen lassen sich noch recht gut aus einem Rucksack plus Taschen versorgen, also mit Roller, Motorrad, Fahrrad, extrem selten sogar: Bus/Bahn. Bei mehr Personen hört das meistens auf. Die große Mehrzahl der Radfahrer mit Kindern benutzen das Auto für den Familieneinkauf. Betrachten wir die Alternativen: Es gibt Lastenfahrräder, die dasselbe für einen sehr teuren Tarif auch können. Es gibt Fahrradanhänger, die dasselbe für einen sehr günstigen Tarif auch können. Und es gibt Lage, Lage, Lage, will sagen: Wenn der Tante-Emma-Laden fußläufig liegt, muss ich keinen Familien-Wocheneinkauf schleppen, sondern kann mehrmals die Woche dort vorbeischauen und in kleineren Portionen einkaufen.

Ein Beispiel für eine solche Art zu leben findet sich in der Innenstadt von Tokio: Kleinste Sträßchen, kleine Lädchen, alle gehen die Wege in ihrem Viertel zu Fuß und zwischen den Vierteln fahren weltbekannte Öffis. Da Grund in Tokyo so teuer ist und man sein Auto auf eigenen Grund stellen und das belegen muss, verzichten die meisten Tokioter auf ein eigenes Auto – zu teuer. Nebeneffekt: Das viele Gelaufe trägt dazu bei, dass der Japaner zu den gesündesten Industrienationenbewohnern zählt.