Lehrkräftemangel: Hybridunterricht für höhere Klassen das neue Normal?
Schon die ersten Pandemie-Jahre zeigten, dass Präsenzunterricht eher für jüngere Kinder sichergestellt wird. Der Lehrkräftemangel könnte das zur Regel machen.
Der sich verschärfende Lehrkräftemangel wandelt frühere Tabus zur neuen Normalität. So könnte der Hybridunterricht und digital gestützter Unterricht für höhere Klassen bald zum schulischen Alltag gehören. Denn um die Folgen des sich immer weiter zuspitzenden Lehrkräftemangels aufzufangen, hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) einen Empfehlungskatalog "zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel" verfasst.
Die Hoffnung ist, mit den Empfehlungen "den Lehrkräftebedarf unter bestimmten Bedingungen zu senken". Für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II kann das laut Empfehlung bedeuten, dass mehr "Hybridunterricht" und die "Erhöhung von Selbstlernzeiten" eingeführt wird.
Zusammen ist man weniger allein
Den Hybridunterricht definiert die SWK wie folgt: "Hybridunterricht bezeichnet ein Setting, in dem ein Teil der Schüler:innen im Klassenraum von einer Lehrkraft unterrichtet wird, während andere Schüler:innen per Videokonferenz digital zugeschaltet sind." Dieser wurde etwa bereits für Schülerinnen und Schüler genutzt, die aus gesundheitlichen Gründen nicht am Unterricht in der Klasse teilnehmen konnten oder weil Infektionsschutzmaßnahmen dies in den ersten Pandemie-Jahren geboten. Wie die SWK aber auch klarmacht, habe etwa Sachsen Hybridunterricht schon dann genutzt, "wenn in der gymnasialen Oberstufe Mindestgrößen für Leistungskurse nicht erreicht wurden." Ukrainische Geflüchtete nutzen die Möglichkeiten des Hybridsunterrichts ebenfalls, um weiterhin am Fachunterricht in ehemaligen Klassen teilnehmen zu können.
Sachsen probiere derzeit zudem Formate, "in denen ganze Kurse in der Oberstufe eines Gymnasiums virtuell am Unterricht eines in Präsenz unterrichteten Kurses an einem anderen kooperierenden Gymnasium teilnehmen. Die damit befassten Lehrkräfte unterrichten in Präsenz mal an dem einen, mal an dem anderen Gymnasium, sodass Schüler:innen beider Schulen Erfahrungen mit Hybridlernen machen." Belastbare Forschungsergebnisse genau zu diesem Format stünden momentan noch aus, Befunde aus der Forschung zum "blended learning" ("integrierten Lernen") ließen laut SWK aber vermuten, dass die Effekte auf die Kompetenzentwicklung eher positiv sein sollten.
Dementsprechend empfiehlt die SWK "Modelle des Hybridunterrichts in gymnasialen Oberstufen, in denen die nötige digitale Infrastruktur vorhanden ist, zu erproben". Da durch den Hybridunterricht mehr Schülerinnen und Schüler pro Hybrid-Klasse auf die Lehrkräfte zukommen könnten, empfiehlt die SWK zudem, dass "betroffenen Lehrkräften [...] qualifizierte Korrekturassistent:innen" an die Seite gestellt werden.
Du kannst das auch so
Dass die SWK die Möglichkeit des Hybridunterrichts als künftige Lösung empfiehlt, stet der sonst formulierten Präsenzunterrichtmaxime der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) entgegen. Allerdings hatten die Infektionsschutzmaßnahmen aufgrund der Coronapandemie im Schulalltag ohnehin eine Art Triage für die Unterrichtsversorgung in Präsenz erzwungen. So konnte älteren Jahrgänge eher digital gestützter Distanzunterricht zugemutet werden als jüngeren Kindern in der Sekundarstufe I oder sogar der Grundschule (Primarstufe).
So erklärt sich auch die nächste Empfehlung der SWK, die mithilfe von digitalen Mitteln insbesondere für höhere Klassen gedacht ist. In der Sekundarstufe II könnte auch "die Erhöhung der Selbstlernzeiten" das Problem Lehrkräftemangel entschärfen. Bei dieser Form des Lernens sollen Schülerinnen und Schüler unter anderem "das Potenzial computergestützter kollaborativer Arbeitsformen [...] nutzen". Dabei sollten auch "evidenzbasierte, qualitätsgeprüfte, kognitiv aktivierende digitale Aufgabenformate und Materialien zur Verfügung" gestellt werden. Die SWK verweist hier auf die Verantwortung der jeweiligen Landesinstitute, die "auch länderübergreifend – Linksammlungen bereitstellen und in gemeinsamer Verantwortung und Kooperation mit der Wissenschaft das Angebot ausweiten" sollen.
Zentralisierung zur Kräftebündelung
Mittelfristig sei dies auch eine Aufgabe, die von den seitens der SWK empfohlenen Zentren für digitale Bildung übernommen werden könnten. Diese Zentren sollen nach Willen der SWK Material für unterschiedliche Schulformen und -stufen entwickeln, bereitstellen, Schulen bei deren Einsatz begleiten und die Länder bei der Entwicklung und Implementierung von Fortbildungsprogrammen für Lehrkräfte unterstützen. Für die berufliche Bildung und die Hochschulen sollen länderübergreifende Strukturen diese Aufgabe ebenfalls stärker übernehmen. So forderte in diesem Zusammenhang im September 2022 Ulrike Cress, Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM), Mitglied der SWK: "Es kann nicht sein, dass jede einzelne Lehrkraft oder jeder einzelne Dozierende Materialien erstellen und didaktische Fragen ebenso berücksichtigen muss wie Fragen des Datenschutzes und der Urheberrechte. Sie sollten auf geprüfte und didaktisch sinnvolle Materialien zugreifen können".
Die Selbstlernzeiten sollten laut SWK nicht mit digital gestütztem Distanzunterricht verwechselt werden. So würden die Selbstlernzeiten auch "nicht automatisch zu einer Einsparung von Lehrkräftestunden führen", da viele Schüler:innen die Lehrkräfte auch in diesen Phasen als Ansprechpartner benötigten. Je mehr "Selbstregulationskompetenzen" die Schülerinnen und Schüler allerdings besäßen "und je hochwertiger das Selbstlernmaterial ist, desto eher kann die Unterstützung durch die Lehrkraft zurückgenommen werden." Auf Dauer erhoffe man sich hier also eine Reduktion des Lehrkräfteeinsatzes, wenn auch andere Angebote weiter mitwachsen und Schülerinnen und Schüler schon im Laufe ihrer Schulkarriere stärker auf das Selbstlernen vorbereitet werden. Dies sei in der gymnasialen Oberstufe auch sinnvoll im Sinne "der Heranführung der Schüler:innen an wissenschaftliche Arbeitsformen", die etwa in der Hochschulbildung wichtig sind.
Zudem geht die SWK davon aus, dass "die Begleitung in kooperativen Selbstlernzeiten nicht zwangsläufig durch die Lehrkraft geleistet werden muss, sondern auch durch fachlich weniger qualifizierte Tutor:innen erfolgen kann, die eine allgemeine didaktische Qualifizierung zur Unterstützung kooperativer Lernprozesse erhalten haben." Für Betreuungen könnten auch Studierende eingesetzt werden, wenn eine Lehrkraft sie anleitet. Auch bei einem zusätzlichen Korrekturaufwand könnten diese helfen. Für solche Arbeiten sollen der Kommission zufolge aber möglichst Master-Studierende oder Studierende im Hauptstudium eingesetzt werden und der Einsatz zehn Unterrichtsstunden pro Woche nicht überschreiten, um etwa auch Studienzeiten nicht zu verlängern.
Der sich langsam weitende Flaschenhals
Damit mehr Hybridunterricht und die Erhöhung der Selbstlernzeiten gelingen können, muss derweil weiterhin an einem der großen Flaschenhälse der Digitalisierung im deutschen Schulwesen gearbeitet werden. So formuliert die SWK, was weiterhin gebraucht wird: ein Internetzugang und digitale Endgeräte für Schulen, Schülerinnen und Schüler.
Eine weitere von der SWK vorgeschlagene Maßnahme zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels ist etwa das Zusammenlegen von kleineren Schulen im ländlichen Raum, um näher an die maximalen Klassengrößen heranzukommen. So soll vermieden werden, dass Lehrkräfte für nur sehr kleine Klassen eingesetzt werden. Für die Sekundarstufe I sei auch eine befristete Überschreitung der bisher maximalen Klassengröße (bzw. "Klassenfrequenzen") zu prüfen. Für Grundschulen und Schulen in "herausfordernden Lagen" sollte auf eine Erhöhung der Klassengrößen verzichtet werden, so die SWK. Sie führt aber auch an, dass Lehrkräfte gerade der "Reduktion der Klassenfrequenz" die größte Priorität zuordnen. Die schon bisher erfahrene Klassenfrequenz werde immer wieder als ein zentraler Belastungsfaktor genannt.
Des Weiteren schlägt die Kommission vor, die Teilzeitarbeit bei Lehrkräften zu begrenzen oder eine Aufstockung der Stunden in Teilzeit zu bewirken, Lehrkräfte aus dem Ruhestand zurückzuholen, Sabbatjahr-Modelle für eine befristete Zeit einzuschränken oder die Stundenzahl generell zu erhöhen (mit sogenannter "Vorgriffsstunde"). Auch Abordnungen und die Weiterbildung von Gymnasial-Lehrkräften seien zu erleichtern, da hier das Angebot den Bedarf übersteige, während es in den Grundschulen und in der Sekundarstufe I an Lehrkräften fehle, die oft weniger gut bezahlt werden, als Lehrkräfte der Sekundarstufe II. Zusätzliche Aufgaben, die Lehrkräfte momentan freiwillig oder erzwungenermaßen übernehmen – wie etwa auch die Pflege der Schul-IT – sollen durch mehr Stellen für Verwaltungspersonal und weiteres pädagogisches Personal verlagert werden.
Die SWK prognostiziert, dass "das Problem des Lehrkräftemangels aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben wird".
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(kbe)