Missing Link: Migration in die Industrie 4.0 – Flüchtlinge als Software-Entwickler gegen Fachkräftemangel

Seite 4: Erfolgreiche Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlerinnen und EntwicklerInnen

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Herr Steinberger, können Sie eigentlich programmieren? Steinberger lacht. "Niemand von uns Schulorganisatoren kann programmieren. Das ist auch gar nicht nötig. Wir stellen nur die Infrastruktur und Ressourcen bereit." Programmierkompetenzen hat auch Gründerin Riechert nicht. Es fällt auf, dass keine Programmierer als gründungswillige Social Entrepreneurs auftreten. Steinberger ist Absolvent der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Riechert studierte Friedens-und Konfliktforschung in Tokio und leitete dann das "Stanford Peace Lab" in Berlin.

Vielleicht braucht man als Social Entrepreneur mehr eine Vision und ein Leitbild als Detailkenntnisse des Fachbereichs, in dem man ein Unternehmen gründet. Ein Aspekt, der GeisteswissenschaftlerInnen von InformatikerInnen unterscheidet. Während Entwickler stets bemüht sind, möglichst genau den Programmcode einzugeben und dabei keine Tippfehler zu machen, sind SozialwissenschaftlerInnen trainiert das "große Ganze" zu erkennen, die systemischen Zusammenhänge in der Welt zu überblicken. Die fruchtbare Kombination von akribischen InformatikerInnen und visionären Geisteswissenschaftlern, so scheint es, birgt in sich revolutionäres Potential.

Wieso hat sich der 29-Jährige entschieden, die New Austrian Coding School zu gründen? Was macht ihn so risikofreudig? Steinberger denkt nach. "Ich war der Erste in meiner Familie, der studiert hat, und ich glaube, ich hatte schon immer einen starken Gerechtigkeitssinn", sagt er langsam. "Gleichzeitig hatte ich auch irgendwie immer den Drang Verantwortung zu übernehmen. Und ich bin sehr stur. Wenn ich etwas will, dann arbeite ich Tag und Nacht dafür".

Ein Schüler, ein junger arabischer Mann kommt lachend näher, schwingt sich auf das Sofa neben ihn und packt Steinberger bei den Schultern. Beide grinsen sich an. "Das ist auch etwas", sagt Steinberger, "dass mich glücklich macht. Zu sehen, wie die TeilnehmerInnen in den Kursen aufblühen. Wir bieten ihnen eine feste Tagesstruktur, eine Gemeinschaft, einen sinnvollen Bildungszweck. Es ist krass wie manche TeilnehmerInnen hier mit gebückten Rücken verschüchtert anfangen und jeden Tag immer aufrechter gehen und froher wirken", sagt er.

Dasselbe sagt auch die pensionierte Siemens-Entwicklerin und Dozentin von ReDi-Schule in München, es sei so schön, zu sehen, wie nach einer Duchbeißphase ihre SchülerInnen neues Selbstvertrauen durch den Erwerb neuer Fähigkeiten erhielten.

Aller Anfang war schwer, zum ersten Pilotkurs der New Austrian Coding School im Jahr 2016, kam exakt nur ein TeilnehmerInnen. "Wir mussten da noch etwas an unserem Marketing feilen" lacht Steinberger. Um die Ecke in der Küche steht ein Marmeladenglas auf dem "Feedback" in handgeschriebener Schrift steht. Flache Hierarchien, kurze Wege: Das Zeichen eines agilen Unternehmens im 21. Jahrhunderts.

"Ja, konstruktive Kritik ist uns sehr wichtig", bestätigt Steinberger. "Und ganz besonders wichtig ist unserer Community Manager. Denn wenn unsere SchülerInnen Schwierigkeiten mit dem Arbeitsmarktservice haben, auf einmal ihre Miete nicht bezahlen können oder ähnliches, dann wirkt sich das auf ihr Lernverhalten aus. Deswegen beschäftigen wir einen Quasi-Sozialarbeiter, der als Ansprechpartner für alle da ist, und hilft, Probleme zu lösen."

Es klingt logisch: Nur wer nicht ständig an sein Überleben denken muss, hat die Ruhe sich auf Bildung zu konzentrieren. Vielleicht ist dies der Grund, warum die vielbeschworenen MOOC – die Massive Open Online Kurse – nur bedingt genutzt werden, obwohl die Informatikvorlesungen von renommierten Universitäten wie Harvard oder dem Massachusetts Institute of Technology angeboten werden. Ihre Abbrecherquote liegt bei über 90 Prozent, ein klassischer Frontalunterricht im Videoformat, ohne die Möglichkeit der Interaktion zwischen DozentInnen und SchülerInnen.

Theoretisch könnten Flüchtlinge schon vor ihrer Migration, während der Flucht oder im einem Asylunterbringungszentrum Onlinekurse auf ihrem Smartphone belegen. Doch kaum einer tut es. Vielleicht, weil man auf der Flucht nur an sein Überleben im Hier und Jetzt und nicht an das Leben und die Zeit danach denkt. Vielleicht weil der Anreiz einer Gemeinschaft mit realen Personen fehlt, in der man sich über die Fächer austauschen und gegenseitig helfen kann. Wer einmal den Kurs mit der regen Beteiligung um Fabian Wurm gesehen hat und die kollegiale Atmosphäre in der Mittagspause erlebt hat, weiß warum.

Doch warum muss man überhaupt erstmal eine Flucht durchmachen, um eine Ausbildung zur EntwicklerIn im vom Fachkräftemangel gebeuteltem Europa finden? Die Antwort auf die Frage findet sich in der Schweiz. Direkt neben dem Rheinufer, in einer schmalen Straße, befindet sich das Philosophicum. Ein Künstlerhaus das noch direkt aus dem Mittelalter stammt: krumme Treppen, schiefe Wänden und Holzbalken an der Decke. Im höchsten Stock, im Festsaal steht Christian Hirsig vor einem Beamer und hält sein Smartphone in die Höhe. Der orangene Lichtschimmer des Displays erhellt den Raum. Hirsig steht vor circa zwanzig Anwesenden.

"Auf der Flucht habt ihr sicher viele Traumata erlebt", sagt Hirsig. "Deswegen habe ich für euch mehrere kostenlose Lizenzen für einen App-Mediationskurs mit organisiert." Hirsig ist Gründer der NGO "Powercoders". Auch er ist kein Programmierer. Hirsig ist der dritte im Bunde der Social Entrepreneurs für IT-Akadamien für Migranten. Hirsig, Steinberger, Riechert, alle drei hatten unabhängig zum selben Zeitpunkt in drei verschiedenen Ländern dieselbe Idee. Alle drei haben ihr Unternehmen allein, ohne sich miteinander zu vernetzen, erfolgreich in Gang gesetzt. Bis dahin hatte der ehemalige BWL-Student schon erfolgreich ein Beratungsunternehmen und ein Start-Up-Inkubator gegründet.

Christian Hirsig

"Ihr gehört zu den 1 Prozent der Talentiertesten hier", doziert Hirsig vorn. Der neue Kurs läuft erst seit ein paar Tagen, deswegen werden von ihm die Grundlagen erklärt. "80 Prozent unserer vergangenen TeilnehmerInnen haben einen Arbeitsplatz in der IT-Branche, 100 Prozent haben einen Praktikumsplatz gefunden. Wer es als Programmierer in der Schweiz schafft, verdient bis zu 60.000 Franken."

Hirsig spricht klar und mit ruhiger Stimme. "Das wichtigste ist: vertraut uns. Wir helfen euch so gut es geht." Es scheint, dass er es schafft etwas zu vermitteln, was vielen Flüchtlingen verloren gegangen ist: Hoffnung. Hirsigs Worte erinnern an dasselbe Phänomen, das die SchülerInnenstruktur aller drei Schulen prägt: Die TeilnehmerInnen sind hoch motiviert und gleichzeitig sehr gestresst. Sie wissen wie ihre Zukunft davon abhängt. Sie wissen, dass sie dieses Examen bestehen müssen um im deutschsprachigen Arbeitsmarkt integriert zu werden. Um endlich finanziell unabhängig zu werden.

In Basel wird deswegen heute nicht programmiert, sondern Persönlichkeitstests absolviert und ein Bewerbungsmappentraining veranstaltet. "Denn was Flüchtlinge nicht haben, wenn sie neu in ein Land kommen, ist ein Netzwerk. Und die kulturellen Gepflogenheiten, die länderspezifischen Unterschiede müssen eingeübt und verinnerlicht werden", sagte Steinberger einige Tage zuvor in Wien und die Worte könnten jetzt exakt aus Hirsigs Mund kommen.

Anders als in Österreich und in Deutschland, kommen auf TeilnehmerInnen im Alpenstaat eine weitere Schwierigkeit hinzu: Das Schweizerdeutsch. Die SchülerInnenInnen müssen Programmiersprachen einüben, Englisch können, den Deutschkurs absolvieren und gleichzeitig den starken Schweizer Dialekt beherrschen. Vier Sprachen auf einmal. Ein unmögliches Unterfangen? Die 18-Jährige Afghanin Sodaba erzählt nach der Unterrichtsstunde, dass das Jonglieren mit vier Sprachen eine tägliche Herausforderungen sei. Aber die Zukunftsaussichten als Programmiererin würden sie jeden Tag motivieren und das schwierige Unterfangen wieder wett machen. Sie ist eine von vier Frauen in dem Kurs, hat einen eigenen Youtube-Kanal auf dem sie zusammen mit ihrer Mutter afghanische Gerichte kocht.

Sodaba hat wie viele andere TeilnehmerInnen über Facebook von dem Angebot erfahren. So wie Bismillah, ein Afghane, für den das Informatikstudium ein unerreichbares Ziel darstellte, da er keine schweizerische Hochschulzulassung besaß. "Als ich dann das Angebot von Powercoders mit nur drei Monaten Programmierkurs plus ein Praktikum sah, dachte ich: Ein Traum." Bismillah spricht bereits fließend deutsch mit schweizerdeutscher Einfärbung. Seine Worte ähneln denen des syrischen Vaters Badi Raslan, der in der Wiener New Austrian Coding School sagte, er fühle sich so, als würde er mit dem Programmierkurs einen Diamanten in der Hand halten, den er nie mehr loslassen wolle.

Hat er eine Erklärung, warum sich mehr Männer für die PowerCoders interessieren? "Ich habe das Gefühl, dass sich viele Schweizerinnen für Technik interessieren, aber wenn es um das konkrete Machen geht, dann ist da so etwas wie eine Wand aufgrund ihrer Erziehung in den Köpfen, von den Stereotypen der Gesellschaft. Bei geflüchteten Frauen ist das anders. Sie haben schon einmal diese Fluchterfahrung gemeistert, sich auf etwas vollständig Neues eingestellt und sind deswegen offener gegenüber neuen Erfahrungen. Deswegen haben sie weniger Angst vor dem Erlernen technischer Kompetenzen." Bissmillah spricht über die Agilität, die Anne Kjaer Riechert genannt hat. Offen sein, schnell reagieren – der wichtigste Soft Skill im 21. Jahrhundert. Für Offenheit brauche es Diversität hatte die leitende Angestellte von Microsoft, Magdalena Rogl, in München gesagt.

Mitglied Shadi aus Syrien kann nur von den positiven Reaktionen auf den Kurs aus seinem Umfeld in Basel berichten. Die Schweizer, die er kenne, würden ihn regelrecht während seiner Ausbildungszeit als Programmierer anfeuern, und ihn in seiner Kurswahl bestärken sagt er. Das motiviere ihn zusätzlich.

Während zwei Unterrichtsstunden ist Zeit für ein kurzes Interview mit Christian Hirsig. Herr Hirsig, wie läuft das eigentlich mit der innerschweizerischen Expansion ihrer Schulen? Hirsig stöhnt. "Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich." Manchmal verzweifle er an dem starken Schweizer Förderalismus. "Aber immerhin ist unsere Schule schon an drei Standorten vertreten, in Bern, Lausanne und Basel."

Theoretisch müsste er bei 26 verschiedenen Kantonsbehörden die Schulstrukturen von Grund auf neu erklären und in jeder der Behörden eine neue Förderung beantragen. Ein zeitaufwendiger Prozess. Seine Schule wird aus der Steuerkasse und Spenden gefördert, sie haben nicht die Rechtsform eines Unternehmens, sondern einer NGO gewählt. "Von der bisherigen Kantonspolitik werden wir hier in der Schweiz gut unterstützt. Wir haben nämlich für jede politische Coleur etwas anzubieten: Linke Parteien weisen wir auf die erfolgreiche Integration unserer SchülerInnen hin, wirtschaftsliberalen Parteien sagen wir, dass die Schule erfolgreich den Fachkräftemangel bekämpft und rechten Parteien erzählen wir, dass unsere TeilnehmerInnen nicht mehr von Sozialhilfe abhängig sind. Das macht den Aufbau unserer Schule eigentlich unangreifbar", sagt Hirsig.

Ab wann wird es dann Codingakademien auf anderen Kontinenten geben? Hirsig grinst. "Wir sind bereits weit fortgeschritten in den Abklärungen zu einer Durchführung in Istanbul, am Hot Spot der Flüchtlingsroute an der türkisch-griechischen Grenze. Die Türkei hat mit der Aufnahme von Flüchtlingen eine große Aufgabe gemeistert. Jetzt wollen wir bei der Integration helfen."

Unzweifelhaft hat Hirsigs Schulmodell die Pole Position in der interkontinentalen akademischen Expansion vor ReDi und der New Austrian Coding School übernommen. "In Istanbul möchten wir ebenfalls für die türkische Bevölkerung die Kurse anbieten. Und übrigens ist der Aufbau der Schule im Ausland viel günstiger, da die Lebenshaltungskosten viel niedriger sind als in der Schweiz", sagt Hirsig. Innerhalb von zwei Jahren hat Powercoders bereits eine globale Version der Schule entworfen und begonnen sie umzusetzen.

Und was ist mit Europa? Innerhalb der Europäischen Union fokussiere man sich jetzt auf Mailand, Stockholm und Madrid, erzählt Hirsig, "denn das sind fortschrittliche Zentren der Techie-Szene" erzählt er. "Denn für unser Programm müssen jeweils drei Voraussetzungen unbedingt gegeben sein: Erstens genügend Flüchtlinge in der Stadt, zweitens eine bestehender IT-Arbeitsmarkt für Entwickler und drittens keine vergleichbare Schule. Das ist in Mailand, Stockholm und Madrid der Fall. In Nordafrika hat es mit diesen drei Voraussetzungen nur Kairo in die engere Auswahl geschafft." "Wir könnten uns aber vorstellen, in den nächsten Jahren eine Programm für den Aufbau von Offshoring-Softwarefirmen anzubieten. Dies würde manche Tür in Afrika aufstossen." "Dann können Menschen programmieren lernen und in ihrem Heimatland erfolgreich eine Softwarefirma aufbauen, weil sie über lukrative Verträge in Industrieländern verfügen. Das ist unsere Vision von moderner Entwicklungshilfe”, schließt Hirsig ab.

[Update 20.02.2019 13:41]:

Aussage über die Gehäter "im sechsstelligen Bereich" korrigiert, es geht um einen höheren fünfstelligen Bereich. (bme)