Missing Link: Migration in die Industrie 4.0 – Flüchtlinge als Software-Entwickler gegen Fachkräftemangel

“Es ist, als würde ich einen Diamanten in der Hand halten.” Wie Flüchtlinge in Europa die Wende zur Industrie 4.0 gestalten.

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Code, Programmieren, Wissenschaft
Lesezeit: 38 Min.
Von
  • Valerie Lux
Inhaltsverzeichnis

Anne Kjaer Riechert, eine Mittdreißigerin, steht im Gedränge und hat ihr Unternehmensteam verloren. Gerade wollte man Burritos essen gehen, aber eine Sekunde zu lang hat sie auf die E-Mails auf ihrem Smartphone geschaut. Ein Fußballverein hat gerade angekündigt, sie gerne treffen zu wollen, um eine Kooperation mit ihrer IT-Schule auszuloten. Hinter ihr liegt eine anstrengende Podiumsdiskussion, viele Fragen von JournalistInnen, in zwanzig Minuten ist der nächste Termin. Riechert ist in diesen Tagen viel gefragt, denn ihre Person verkörpert die Lösung für die zwei wichtigsten Fragen Deutschlands. Ach was, die zwei wichtigsten Fragen Europas: Wie soll man mit der Migration umgehen? Und wie meistert man die digitale Transformation?

Anne Kjaer Riechert

Riechert hat im Jahr 2015 in Berlin die erste Programmierschule nur für Flüchtlinge gegründet. AsylbewerberInnen erhalten schnell und unkompliziert ein dreimonatiges Training in den wichtigsten Programmiersprachen. Die Kompetenzen die für die Entwicklung der Industrie 4.0. relevant sind. Von Java zu Python, von Internet of Things (IoT) zu Netzwerksicherheit, von Seminaren zur Datenschutzgrundordnung bis zu Roboteranwendungen – alle Kurse sind strikt auf die Bedürfnisse des aktuellen Arbeitsmarkts ausgerichtet, um möglichst schnell den wachsenden Bedarf an Software-Entwicklern für deutsche Unternehmen zu stillen.

Über 900 geflüchtete AbsolventInnen haben in den letzten zwei Jahren ihren Abschluss gemacht. Der Erfolg ihrer Schule, der "Digital School of Integration", kurz: ReDi, war so überwältigend, dass Riechert und ihr Team, das fast ausschließlich aus Frauen besteht, soeben eine zweite Schule in München eröffnet haben.

Eine Stunde vorher sitzt Riechert zum Interviewtermin auf einem Ledersessel des "Mindspace", eines neuen CoWorking-Space in München. Silberne Luftröhren hängen von den Decke, hinter ihrem Sessel befindet sich eine Glasfront an der Fußgänger vorbei hasten. Frau Riechert, sind Flüchtlinge die besseren Programmierer? "Es ist offensichtlich, dass Flüchtlinge traumatische Kriegserfahrungen mit sich tragen, den Verlust von Familienangehörigen erlitten haben. Wer das einmal durchgemacht hat, und immer noch in der Lage ist einen Alltag zu haben, hat zwangsläufig eine gewisse Resilienz erworben. Das Schlimmste was im Leben passieren kann, ist bereits passiert."

Um sieben Uhr früh stand das erste Meeting des Tages auf dem Programm. Es galt den Start der neuen Spendenkampagne für einen speziellen Programmierkurs für geflüchtete Frauen vorzubereiten, gerade hat sie über das Thema eine Podiumsdiskussion hinter sich. "Diese Resilienz von MigrantInnen, die sie nach Deutschland mitbringen, kann man auch 'agile Kompetenz' nennen", fährt sie fort, "also die Bereitschaft sich neuen Verhältnissen anzupassen. Veränderung ist für MigrantInnen keine Katastrophe mehr, sie sind flexibel. Insofern ist es für geflüchtete Menschen manchmal einfach, sich an die Anforderungen von Unternehmen anzupassen, die an der Schwelle zur vollständigen Digitalisierung ihrer Betriebsabläufe stehen."

Riechert spricht nicht mit der Stimme einer wütenden Aktivistin auf einer Pro-Flüchtlings-Demonstration. Sie hat einfach ein Problem gesehen und bietet eine Lösung an. Und in der Tat: Agilität ist eines der Schlagworte, mit dem Unternehmen sich momentan landauf und landab auseinandersetzen. Wer agile Mitarbeiter hat, ist agiler auf dem Markt, kann neue Trends frühzeitig erkennen und sich dem Wettbewerb anpassen. Agil bedeutet: MitarbeiterInnen müssen schneller umdenken, ChefInnen auch. Doch die Anforderung an Agilität kann in vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland, mit eher konservativer Belegschaft und starren Hierarchien, auch Ängste auslösen.

Sind veränderungsbereite Migranten als Mitarbeiter das Tor zu Umsatzwachstum? Namhafte Firmen, wie beispielsweise das deutsche IT-Mittelstandsunternehmen Klöckner, stellen der Redi-Schule bereits Räumlichkeiten und Dozenten bereit. Alleine in Deutschland gaben im Jahr 2016 laut dem Mittelstandsbarometer knapp 50 Prozent der befragten Unternehmen an, dass der Mangel an geeigneten Fachkräften zu Umsatzeinbußen führe. "Europa steht dabei vor einem gravierenden Problem. Denn wegen der anhaltend niedrigen Kinderzahlen schrumpfen vielerorts die Bevölkerungen. Praktisch flächendeckend gehen immer mehr Menschen in Rente, während immer weniger von unten in den Arbeitsmarkt nachrücken", heißt es in der 2017 veröffentlichten Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Jedes Land in Europa hat dasselbe Problem: Die Politik kann keine Garantie für die zukünftigen Renten übernehmen. Durch den Geburtenrückgang wird es keine Beitragszahler mehr geben. Gleichzeitig jedoch sucht fast jedes Unternehmen in Europa händeringend Software-Entwickler. Mit einer steigenden Zahl von Migranten mit Programmierkenntnissen hätte man zwei arbeitsmarktpolitische Fliegen mit eine Klappe geschlagen: Rentengarantie und der Fachkräfteüberfluss.

Die digitale Transformation ist nicht nur für die deutsche Industrie relevant. Auch Firmen im Dienstleistungssektor müssen ihre Arbeitsspeicher in die Cloud verlagern, aus Datenschutzgründen Experten für Datensicherheit anstellen, ihre Websites warten oder Datenströme in ihrer Buchhaltung bündeln. Die wenigen auf dem deutschen Markt vorhandenen EntwicklerInnen können aufgrund des Fachkräftemangels sich mittlerweile Gehälter im höheren fünfstelligen Bereich aussuchen. Das wiederum führt zu sinkenden Gewinnen von Unternehmen.

"Wer sein Unternehmen nicht vollständig mit Programmierern digitalisiert, den wird der Markt fressen, so wie ein Hai einen Menschen in einem Happs verschlingt", warnte Keynote-Speaker Stefan Engeseth mit markigen Worten auf der letzten CeBit: "Digitize or die." In einer radikal darwinistisch-ökonomischen Lesart verdeutlichte Engeseth, dass ein Hai auf unvorhergesehene Art und Weise sein Opfer tödlich angreife und nur aufgrund dieser Strategie überlebe. Analog zur Geschäftswelt bedeutet dies: Dem KMU-Unternehmen, das die digitale Revolution verschläft, werden bald beißfreudige Start-Ups, die Haie, mit schnelleren digitalen Mitteln das Fürchten lehren.

Was steht also der Umsetzung einer breiten Bildungsoffensive für Geflüchtete in Europa im Weg? Es sind: konservative Regierungen. Wer das verstehen will, muss nach Österreich fahren. Ein paar hundert Kilometer Bahnfahrt von München entfernt, in Wien, führt Stefan Steinberger durch seinen Unterrichtsraum in einer ehemaligen Industriehalle. Der junge Mann führt durch einen mit Neonröhren beleuchteten Raum und spricht mit leiser Stimme. Etwa dreißig SchülerInnen sitzen in mehreren Reihen vor einem Beamer, die Jalousien sind heruntergelassen um den Raum zu verdunkeln.

Der Gründer der Wiener Programmierschule "New Austrian Coding School", Stefan Steinberger, hat vor zwei Jahren begonnen, den Zustand "österreichische IT-Fachkräfte" mit dem Problem "Migration" in einem Unternehmen miteinander zu verknüpfen. Doch die rechtskonservative Regierung unter Sebastian Kurz machte Steinberger beinahe einen Strich durch die Rechnung. "Als die rechtspopulistische FPÖ 2017 neu von Kurz in die Regierungskoalition aufgenommen wurde, mussten wir jedes Mal das Wort "Flüchtling" aus unseren Anträgen für staatliche Fördergelder für die Programmierschule streichen, heikles Unterfangen." Flüchtlinge, die erfolgreich den österreichischen Arbeitsmarkt unterstützen? "Undenkbar für die FPÖ, die einen Großteil ihrer Stimmen auf der Angst vor Flüchtlingen einsammelt", erklärt Steinberger. Auch sonst seien Steuergelder für Ausländer ohne nationale Staatsbürgerschaft vielen Einheimischen in Österreich nicht vermittelbar.

Stefan Steinberger

Im Wiener Unterrichtsraum ist es lauter geworden. Der heutige Dozent Fabian Wurm, ein Informatikstudent, gestikuliert ausladend und erklärt den technischen Aufbau von Datenbankstrukturen. Auf der Beamerprojektion sieht man Listen mit Musikstücken, von Beethovens "Ode an die Freude" bis zum Beatles-Song "Imagine". Die SchülerInnen sind angehalten die Lieder zu klassifizieren und einer Datenbank richtig zuordnen. Die ZuhörerInnen bilden eine bunte Mischung: Es gibt ältere TeilnehmerInnen mit tiefen Sorgenfalten, die neben jungen Männern im Hoodie sitzen, eine Frau trägt ein Kopftuch mit Zebrastreifenmuster, manche Männer tragen Stehkragen und Anzugjacket.

In der Klasse herrscht rege Beteiligung. Kaum ein Satz von Wurm vorne vergeht, ohne dass jemand von den SchülerInnen die Hand hebt und eine Frage stellt. Wurms Antwort ist beinahe jedesmal dieselbe "Deine Frage führt in eine fortgeschrittene Richtung, das werde ich später erklären." Man merkt: Die TeilnehmerInnen wollen wirklich verstehen und sind gedanklich oft schon weiter.

Anne Kjaer Riechert und Stefan Steinberger kennen sich nicht. Zwischen ihren Heimatorten liegen knapp 500 Kilometer und zwei Landesgrenzen. Beide hatten wundersamerweise dieselbe Idee zur selben Zeit. Wie Riechert gehört Steinberger zu der Kohorte der "Social Entrepreneurs". "Der Profit unseres Unternehmens ist für uns zweitrangig, wir wollen einen Unterschied machen", sagt Steinberger. "To make a difference" – dieselbe Formulierung nutzt auch Riechert während der Podiumsdiskussion bei der Spendenveranstaltung für das Frauenprogramm in München.

Nach was genau charakterisiert sich Social Entrepreneurship? Das "soziale Unternehmertum" bezeichnet das unternehmerische Wirken einer aufstrebenden Elite, für die Einkommensgenerierung mit dem gesellschaftlichen Sinn ihres Unternehmens Hand in Hand gehen. Der Unternehmensbegriff wurde in den achtziger Jahren geprägt und kennzeichnet vor allen Dingen flache Hierarchien und nur das nötige existenzsichernde Einkommen ihrer Mitarbeiter, ohne Bonuszahlungen und Prämien. Gleichzeitig werden die Waren und Dienstleistungen auf den freien Markt angeboten. Oft werden soziale Unternehmen zusätzlich anteilig auch aus öffentlichen Geldern unterstützt. Alle erwirtschafteten Gewinne werden reinvestiert und gelangen nicht in die eigene Tasche der Geschäftsführer, ein kooperativer Führungsstil steht im Mittelpunkt.

Einer der bekanntesten Social Entrepreneurs ist Mohammad Yunus, der die genossenschaftliche Grameen Bank gründete, die Frauen in Entwicklungsländern für ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit mit Mikrokrediten unterstützt. Yunus erhielt dafür den Friedensnobelpreis. "Die Struktur des Kapitalismus muss durch soziale Unternehmen vervollständigt werden" begründete Yunus die Idee der Social Entrepreneurship. Viele Social Entrepreneurs, wie der Österreicher Steinberger, gründen mit ihrer Vision erst einen Verein, wandeln diese um zu gemeinnützigen GmbHs und haben schlussendlich nach ein paar Jahren eine rentable Firma aufgebaut.