Missing Link zu Smart Borders: Die Stadt der Zäune und das Land der Träume

Seite 4: Im Land der Träume

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Auf den Felsen von Dover scheint die Sonne so stark, dass die weiße Kreide einen scharfen Kontrast zum dunkelblauen Meer darstellt. Wer über die hundert Meter hohen Klippen läuft, sieht blühende Brombeeren, rote Stachelbeeren und Greifvögel, die in der Luft still stehen, um pfeilschnell Mäuse zu fangen. Dunkle Höhlen sind in Kreidefelsen gehauen. Sie riechen nach Moos und feuchter Luft. Ein Schutz während Bombenangriffen im zweiten Weltkrieg.

Dover ist ein hübsches Städtchen, am Strand gibt es statt weißem Sand dunkelgelben Kies, über den die Wellen schwappen. Träge räkeln sich sich britische Rentner an diesem Montagnachmittag am Strand. Migranten in Dover sind keine zu sehen. „Die wollen auch nicht in Dover bleiben. Die meisten zieht es nach London, wo Freunde und Familie wohnen“, klären mich zwei Rentner am Strand auf.

„Jeder Bewohner in Dover hat schon diese Situation gesehen: Auf der Autobahn Richtung London sieht man auf einmal, wie vor einem ein Lastwagen auf den Standstreifen fährt. Die Tür öffnet sich und zehn, zwanzig schwarze Menschen purzeln heraus und rennen in alle Richtungen davon“, erzählt eine andere britische Passantin am Hafen.

Am Eingangstor zum Hafen Dover steht ein blonder Mann mit Sonnenbrille. Mit der einen Hand hält er seinen Daumen hoch, in der anderen Hand hält er grinsend eine Weinflasche den Autofahrern entgegen.„Ich versuche über den Kanal zu trampen“, erklärt mir der Franzose, „normalerweise funktioniert das bei meinen Landsleuten mit Wein am Besten“. Auf einmal fährt ein Polizeiwagen heran und ein Offizier kurbelt das Fenster herunter. „Sie werden von der Kamera beobachtet und unsere Security ist nicht glücklich über ihren Trampversuch“, sagt der Beamte. Seufzend packt dieser seine Weinflasche wieder ein, schultert seinen Rucksack und verabschiedet sich. Trampen an dieser Stelle scheint anachronistisches Relikt aus Flower-Power-Zeiten.

Auf dem Rückweg plaudere ich mit den Beamten am britischen Check-in in Frankreich. Sie tragen blau-weiß gestreifte Kragen und haben neongelbe Warnwesten übergezogen. „Wir verstehen die französischen Grenzkontrollen nicht“ erzählt mir ein Hafen-Angestellter, der ungenannt bleiben möchte. „Die Franzosen überprüfen die Pässe mit französischer Eleganz, je nach Lust und Laune. Manchmal kontrollieren sie pedantisch jeden einzelnen Passagier, dann lassen sie wieder auf einen Schlag vierhundert Autos aus England Richtung Calais ohne Kontrolle durch. Wir von der britischen Abfertigung kommen dann bei dem Ansturm gar nicht mehr hinterher, es kommt zu Staus und wütenden Passagieren.“

(Bild: Port Boulogne Calais (Screenshot aus Video))

In sechs Monaten scheidet Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Gibt es schon Anweisungen für schärfere Vorkehrungen an der Grenzkontrolle? „Nein“, sagt mir der Angestellte, „bei uns läuft alles so, wie es immer ist“. Der Hafen hat ein Problem: Verlässt das Königreich die EU ohne Abkommen, müssen in Calais vollständig neue Kontrollinstrumente eingerichtet werden, die Veterinärinspektionen. Jeder Lastwagen mit tierischen Erzeugnissen wie Eier, Fleisch oder Milch müsste zeitaufwendig auf mögliche Viren und andere gesundheitsschädliche Stoffe kontrolliert werden. Kapazitäten sind dafür auf dem Hafengelände nicht vorgesehen. „Wir Briten sind langsam wirklich erschöpft. Kein Politiker kann uns sagen, was passieren wird. Niemand hat Ahnung. Die Brexit-Debatte dreht sich seit Monaten im Kreis.“

Trotz der hohen Sicherheitsvorkehrungen gelangen immer wieder Migranten über den Kanal. „Das stimmt“, bestätigt mir ein beleibter britischer Sicherheitsmann in Calais. Ich treffe ihn zufällig abends an einem der vielen Pommes-Frites-Imbisse in der Innenstadt. Als er hört, dass ich Journalistin bin, schaut er mich an, als hätte er ein Staatsgeheimnis verraten. Er nimmt seine Fritten mit andalusischer Soße und kehrt mir resolut den Rücken zu. Es ist, als hätte ich einen Gefängniswärter gefragt, welche Mechanismen denn nun exakt in seinem Gefängnistüren nicht funktionieren würden.

Es ist vermutlich ein simpler Grund, warum Migranten über das Meer gelangen, obwohl Calais sich teilweise wie ein einziges Hochsicherheitsgefängnis ausnimmt: Zeit. Je mehr LKWs und Touristen zu Stoßzeiten sich auf die Fähre drängen, umso mehr stehen die Beamten unter Stress, die LKWs möglichst schnell durchzuwinken. „Der Hafen steht für effiziente Überfahrt, die Leute wollen nicht warten“, erzählt ein anderer Hafenangestellter. Werden LKWs mit frischen Nahrungsmitteln gezwungen, länger zu warten als vorgesehen, läuft das Verfallsdatum ihrer transportierten Ware ab. Versäumen Touristen ihre Anschlusszüge auf dem Festland, werde das Management mit Klagen wütender Passagiere überflutet.

In der Nähe des Stadtzentrums betreibt Chaouib zwei Hotels. Der ehemalige Fussballstar und Bodyguard algerischer Herkunft hat versucht, den Flüchtlingen aus seine Art zu helfen. „Meine Unterkünfte wurden letztes Jahr von der Polizei geschlossen“, erzählt er. „Weil ich den Einwanderern, die kein Bett zum Schlafen hatten und im Park nächtigten, einige Male in meinen Hotelzimmern übernachten ließ.“ Das habe die Polizei mitbekommen und ein Verbot verhängt. Vor Gericht erkämpfte der muskulöse Mann mit den sanften braunen Augen für das Fortbestehen seines Betriebs. „Ich habe große Verluste eingefahren, als die Hotels geschlossen waren“, sagt er seufzend. „Aber so ist Calais. Nennt man das nicht Rassismus? Wir Bürger werden schikaniert, wenn wir den Flüchtlingen helfen wollen. Dabei sind sie Menschen wie wir auch.“