Missing Link zu Smart Borders: Die Stadt der Zäune und das Land der Träume

Seite 6: Der Imbiss am Parkplatz

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Im Tankstellenbistro ist es warm und gemütlich. Französische Radiomusik dudelt aus den Lautsprechern, bunte Zeitschriften und Kuscheltiere gibt es zu kaufen, der Geruch von Pommes Frites erfüllt den Raum.

Eine deutsche Reiseleiterin trinkt auf einer Bank ihrem Kaffee, sie wartet hier häufig auf Besuchergruppen aus Nordrhein-Westfalen. “Besonders nachts ist hier die Hölle los”, erzählt sie. “Ständig versuchen die Männer auf den Parkplatz zu gelangen und in einen LKW zu steigen. Und die Polizisten verjagen sie dann wieder. Wenn sie einen fangen, dann nehmen sie ihn im Polizeiwagen mit und setzen ihn außerhalb Calais ab. Eine halbe Stunde später ist er wieder da, sitzt da oben auf der Leitplanke und das Spiel geht von vorne los. Als Beobachterin fühlt es sich an, als würde man einem Ping-Pong-Spiel zuschauen.”

Vier LKW-Fahrer sitzen an einem Tisch und trinken Kaffee, einer kann eine meiner Sprachen sprechen. Er blickt traurig, tiefe Falten durchziehen sein Gesicht. “Gestern wurde einer unserer Kollegen von einem Stein in seinem Führerhäuschen getroffen”, sagt er. “Er hat drei Migranten aus seinem Fahrzeug geworfen, die sich in einem unbeobachteten Moment hineinschlichen. Aus Rache haben sie ihm seine Scheibe an der nächsten Ausfahrt zerschmettert. Er hat am Kiefer geblutet und konnte seine Ware nicht abliefern. Er musste zurück in seine polnische Heimat“. Er nimmt einen Schluck Kaffee. “Es gibt nur sehr wenige, die noch nicht ungewollte Gäste auf ihrem LKW begrüßen mussten.”

Als ich wieder durch den Zaun schlüpfe und von der Autobahn die lange Wiese am Stadtrand überquere, ruft mir jemand hinter her. Aus der Ferne aus dem Gebüsch schlendern drei schwarze Männer auf mich zu. “Wir würden gerne über unsere Situation sprechen”, sagt ein hochgewachsener Mann mit Jeanshemd, “aber nur ohne Diktiergerät”. Ich willige ein. “Seit einem Jahr und drei Monaten warte ich”, erzählt mir der junge Mann mit den braunen Augen. Er hat dieselben traurigen Augen wie der LKW-Fahrer im Tankstellenbistro. Mehrere andere Eritreer drängen sich neugierig um uns. Sie tragen Baggy Pants und Dreadlocks.

(Bild: Port Boulogne Calais (Screenshot aus Video))

Jeden Tag laufe er den Fahrstreifen entlang, in der Hoffnung, sich auf einem Fahrzeug verstecken zu können. Noch nie habe es geklappt. Welche Erfahrungen hat er mit der Polizei? “Tränengas, immer nur Tränengas”. Im Internet sind Aufnahmen von weinenden schwarzen Männern am Straßenrand von Calais zu sehen. Das Gas kann zu zeitweiser Erblindung und starken Schmerzen in den Augen führen. Was machen sie den ganzen Tag? „Die Zeit vertreiben wir uns, indem wir Sprachen lernen, meistens Englisch. Wir teilen uns ein Smartphone, und ab und zu kommt ein WiFi-Wagen von den Hilfsorganisationen vorbei, wo man das Handy aufladen kann.“ Warum bleiben sie nicht in Frankreich? “Bei mir zum Beispiel geht das nicht, mein Asylantrag wurde nicht bewilligt, weder hier noch in Deutschland.” Er habe seine Fingerabdrücke in Schweden, Bulgarien und Frankreich gelassen, doch kein Land wolle ihn annehmen. Jetzt bleibe nur noch England. Warum versucht er es nicht mit einem Boot, warum wartet er seit anderthalb Jahren auf einen Lastwagen? “Boote werden ebenso von der Polizei an der Überfahrt gehindert. Der Ärmelkanal ist die dichtbefahrenste Meerenge der Welt”. Warum sind sie überhaupt aus Eritrea geflohen? “Ach komm, googel es doch einfach.” Wie steht ihr dazu, dass ihr um euer Leben flieht, aber nun die Angst, unter der ihr leidet, bei anderen, den LKW-Fahrern erzeugt?

Verlegenes Lächeln. „Sie sind frei, die LKW-Fahrer“, sagt mir einer. „Wir sind es nicht“.

Ich schaue zurück auf den Parkplatz: Er ist ein Treffpunkt vieler Nationalitäten, ein Multikulti-Hotspot, jedoch ohne gemeinsame Kommunikation. Jede ethnische Gruppe bleibt unter sich: Die LKW-Fahrer gruppieren sich nur mit ihren Landsleute, die Flüchtlinge ebenso, zur Gendarmerie gehören ausschließlich Polizisten mit französischen Pässen. Keine kann sich mit den anderen verständigen, nur untereinander sprechen sie die gleiche Sprache. Gefangen im Transitbereich.