Steinbrück kritisiert "Karawanen-Kapitalismus", Merkel verlangt Antworten von Nokia

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, der sich früher als NRW-Ministerpräsident für Nokia eingesetzt hat, sieht durch einen derartigen "Karawanen-Kapitalismus" eine Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität.

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Die Aufregung um die geplante Schließung des Nokia-Werks in Bochum hat nun auch an der Spitze der Bundesregierung Äußerungen hervorgelockt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet vom finnischen Handy-Konzern mehr Informationen. Aus Sicht der Kanzlerin werfe das Vorgehen des Unternehmens noch viele Fragen auf, sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg heute. Gemeinsam mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung müsse nun versucht werden, so viel wie möglich für die Bochumer Beschäftigten herauszuholen.

Zu möglichen Boykott-Aktionen gegen Nokia sagte Steg, Betroffene und Verbraucher könnten in einer Situation, in der sie sich ohnmächtig fühlten, so ein Zeichen setzen. "Insofern ist das durchaus verständlich. Aber es muss jedem freigestellt bleiben, wie er einen solchen Aufruf aufnimmt und ob er ihm Folge leistet." Heute war bekannt geworden, dass Bundesverbraucherminister Horst Seehofer und SPD-Bundestagsfraktionschef Peter Struck ihre Nokia-Handys nicht mehr benutzen wollen.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück fand zum Thema "Subventionsheuschrecken" und den möglichen Imageschaden für Nokia seinen eigenen Begriff. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk meinte der Minister, das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaftsordnung gehe durch einen derartigen "Karawanen-Kapitalismus" verloren. Solche Vorgänge gefährdeten die gesellschaftliche Stabilität und damit einen wertvollen wirtschaftlichen Standortfaktor, meint Steinbrück ähnlich wie IG-Metall-Chef Berthold Huber. Huber fordert gesetzliche Barrieren und mehr Mitbestimmungsrechte bei Standortverlagerungen.

Anfang 2003 hatte Steinbrück in seiner damaligen Position als NRW-Ministerpräsident anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Ansiedlung des Nokia-Konzerns in Deutschland noch eine Laudatio gehalten. Er versprach seinerzeit, um jeden UMTS-Sendemast in Wohngebieten zu kämpfen und diente sich den Finnen mit den Worten an: "Die Landesregierung steht gerne als Dienstleister für Nokia voll zur Verfügung."

Nun sagte Steinbrück in dem Interview, angesichts der Plötzlichkeit von Nokias Entscheidung, es sei fast ein "Überfallkommando" in Gang gesetzt worden. Die Finnen bekräftigen hingegen, sie hätten sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und diese vor der Verkündung immer wieder geprüft. Das sagte Nokia-Sprecherin Kristina Bohlmann heute in einem Gespräch mit dem WDR-5-Morgenecho. Nokia wolle nun zügig mit dem Betriebsrat an einen Tisch kommen, um zu schauen, wie man den Beschäftigten in dieser "sehr schweren Situation" helfen könne. Bohlmann wies Vorwürfe über den Missbrauch von Fördergeldern zurück. Nokia habe in den 90er Jahren Subventionen erhalten und sich dabei an alle Vereinbarungen in Kontakt mit den zuständigen Stellen gehalten.

Der rumänische Botschafter in Deutschland betonte derweil auf Anfrage des Tagesspiegel, Nokia sei durch das "stabile und attraktive Wirtschaftsklima" in seinem Land angezogen worden – so wie auch "zahlreiche deutsche Firmen". Wenn in Bochum Stellen gestrichen würden, sei das "nicht als eine 'Schuld' Rumäniens zu betrachten. Sein Land respektiere die von der EU festgelegten Wettbewerbsregeln.

Das neue Werk in Rumänien wird nach Angaben von Spiegel TV vom Bielefelder Bauunternehmen Goldbeck gebaut. Den 40 Millionen Euro schweren Auftrag habe Goldbeck Mitte 2007 ergattern können. Goldbeck sei Generalunternehmer und baue das Werk mit eigenen Monteuren und in Deutschland vorgefertigten Bauteilen. Der Beiratsvorsitzende Ortwin Goldbeck habe den Auftrag bestätigt. Die Goldbeck GmbH wollte sich laut dpa zunächst nicht äußern.

"Wenn ein sehr großes und weltbekanntes Unternehmen, das auch von seiner Marke und deren Image lebt, solche Entscheidungen trifft, dann ist es gut beraten, auch auf die Wirkungen zu schauen", sagte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos heute. Viele Menschen fühlten sich angesichts der Schließung vor den Kopf gestoßen. Glos befand sich anlässlich des 90. Jubiläums der Deutschen Handelskammer für Spanien in Madrid.

EU-Industriekommissar Günter Verheugen meint laut dpa, die Schließung einer Fabrik deute für gewöhnlich auf Managementversagen hin. "Von einem modernen Management in Europa muss ich erwarten, dass es Standortentwicklungen im Voraus beurteilen kann und sich rechtzeitig auf Veränderungen einstellt." Die Frage an den finnischen Telekommunikationsgerätehersteller Nokia laute, ob an dem Standort kein anderes innovatives Produkt hergestellt werden könne. Unternehmerische Verantwortung gebe es nicht nur gegenüber den Anteilseignern, sondern auch gegenüber den Beschäftigen und dem Standort, sagte der SPD-Politiker. Eine direkte Intervention der EU-Kommission sei nicht möglich. Es handele sich um eine Standortverlagerung innerhalb der Europäischen Union, europäische Fördermittel seien nicht betroffen.

Die größte finnische Tageszeitung Helsingin Sanomat beobachtet laut ihrer internationalen Ausgabe eine "veritable nationale Bewegung" und eine Anti-Kampagne gegen Nokia in Deutschland. Den Imageverfall der finnischen Handybauer zu ermitteln versuchen die Marktforscher der psychonomics AG. Sie vermelden heute, der von ihnen mittels Online-Panel errechnete "BrandIndex-Score" von Nokia sei von plus 23 auf minus 22 Indexpunkte gefallen. Beispielsweise werde die Qualität der Marke Nokia und auch das Preis-Leistungsverhältnis innerhalb der vergangenen drei Tage von Verbrauchern nun deutlich kritischer bewertet.

Zur geplanten Schließung des Nokia-Werks in Bochum siehe auch: