Die X-Akten der Astronomie: Der hyperschnelle Kugelsternhaufen HVGC-1

Vor einigen Jahren haben Astronomen einen Kugelsternhaufen entdeckt, der mit immenser Geschwindigkeit aus seiner Galaxie rast. Was da wohl passiert ist?

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Die X-Akten der Astronomie: Der hyperschnelle Kugelsternhaufen HVGC-1
Lesezeit: 24 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online werden wir in den kommenden Wochen einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vorstellen und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Kugelsternhaufen sind dicht gepackte, sphärische Ansammlungen von hunderttausenden bis Millionen von Sternen, die bei der Galaxienentstehung als Nebenprodukt mit anfallen und folglich sehr alt sind. Ihre Bahnen können sie tief in den Kern einer Galaxie führen. Die meiste Zeit halten sie sich jedoch in ihrem Halo auf, also jenem Bereich um sie herum, in dem sich kaum sichtbare Materie befindet, jedoch ein Großteil ihrer Masse. Letzteres haben Messungen der Lichtablenkung von Hintergrundobjekten offenbart. Die Milchstraße hat rund 200 Kugelsternhaufen – die elliptische Riesengalaxie Messier 87 hat gar an die 12.000 von ihnen. 2014 fanden Astronomen, dass einer davon sich mit mehr als 2300 km/s von M87 entfernt – zu schnell, als dass selbst diese Riesengalaxie von mehr als 6 Billionen Sonnenmassen ihn würde halten können. Was kann ein Objekt von 3 Millionen Sonnenmassen auf eine solche Geschwindigkeit beschleunigt haben?

Die X-Akten der Astronomie

Sterne entstehen nicht einzeln, sondern in Gruppen. In dieser Reihe haben wir bereits den Sternhaufen NGC 3603 kennengelernt, in dem gerade neue Sterne entstehen. Wolken aus Gas und Staub kollabieren, angestoßen durch Dichtewellen, die durch die Milchstraße laufen, unter ihrer eigenen Gravitation zu Sternentstehungsgebieten. Dabei entstehen Gruppen von einigen hundert oder tausend Sternen, die relativ ungeordnet sind und bald von den Gezeitenkräften der Milchstraße auseinandergezogen werden. Auch die Sonne entstand einst in einem solchen Sternhaufen, und ihre Geschwister können heute über die ganze Milchstraße verteilt sein. Solche Gruppen junger Sterne werden als "offene Sternhaufen" bezeichnet.

Das Siebengestirn ist vielleicht der bekannteste offene Sternhaufen. Neben den hellen sieben oder acht Sternen gibt es noch etwa 200 schwächere, die nur im Teleskop und auf lange belichteten Aufnahmen zu sehen sind. Der uns nächste offene Sternhaufen ist Collinder 285, der als hellste Vertreter die meisten Sterne des Großen Wagens enthält (alle außer dem vordersten Deichselstern Alkaid und dem hinteren nördlichen Wagenrad Dubhe), sowie einige lichtschwächere Sterne. Sie teilen eine gemeinsame Bewegungsrichtung am Himmel.

Messier 13 ist der hellste Kugelsternhaufen der Milchstraße, der bei dunklem Himmel schon mit bloßem Auge zu erkennen ist. Er ist 25100 Lichtjahre entfernt, durchmisst 145 Lichtjahre und enthält etwa 300.000 Sterne.

(Bild: Giuseppe Donatiello)

Von gänzlich anderer Art ist eine zweite Gruppe von Sternhaufen, die Kugelsternhaufen. Der Name ist Programm: hier haben sich hunderttausende bis Millionen von Sternen zu einer kugelförmigen Anordnung versammelt, die ihren gemeinsamen Schwerpunkt wie ein Bienenschwarm seinen Stock umschwirren. Es ist noch nicht bis ins Letzte geklärt, wie diese Sternhaufen entstehen. Weil sie sich nicht ausschließlich – wie die offenen Sternhaufen – in der Milchstraßenscheibe aufhalten, sondern auf ihren elliptischen Bahnen um das Milchstraßenzentrum bis weit in deren Halo hinaus getragen werden, und da sie gemäß ihrer Sternzusammensetzung und ihrem Gehalt an Metallen alle ungefähr so alt wie die Milchstraße selbst sind, geht man davon aus, dass sie ein Nebenprodukt der Galaxienentstehung sind – fast alle Galaxien werden von ihnen begleitet.

Nur bei einigen wenigen Galaxien, die vor astronomisch kurzer Zeit große Kollisionen mit anderen Galaxien erlitten haben, findet man gelegentlich vereinzelt junge Kugelsternhaufen, die noch leuchtstarke, kurzlebige blaue Sterne enthalten. Sie sind anscheinend aus dem kollidierenden Gas der Galaxien entstanden.

Die Bewegung der Kugelsternhaufen verrät, wie sich die Masse einer Galaxie im Raum verteilt und wie groß sie ist, sie spielen eine große Rolle beim "Wiegen" der Milchstraße und der Bestimmung ihres Anteils an Dunkler Materie, denn sie halten sich weit außerhalb des Bereichs aus, in dem sich Sterne befinden, und gerade dort findet sich noch sehr viel Masse. Natürlich möchte man auch die Masse im Halo anderer Galaxien finden, zum Beispiel der elliptischen Riesengalaxie Messier 87 (M87), eine der drei Zentralgalaxien im benachbarten Virgo-Galaxienhaufen, die mit mehreren Billionen Sternen rund zehnmal mehr Sterne als die Milchstraße enthält. Vor anderthalb Jahren machte sie aufgrund ihres supermassereichen Schwarzen Lochs von 6,5 Milliarden Sonnenmassen Schlagzeilen – das erste Schwarze Loch, von dem eine Detailaufnahme gelang.

Lang belichtete Aufnahme der elliptischen Riesengalaxie Messier 87 (M87) mit einigen benachbarten Galaxien im Virgo-Galaxienhaufen. Die lange Belichtung mit dem 61 cm Burrell Schmidt Telescope enthüllt den optischen Teil des Halos um die Galaxie, in dem sich versprengte Sterne aus früheren Kollisionen aufhalten, die ihn zum Leuchten bringen. ⅚ der Masse der Galaxie stecken als unsichtbare Dunkle Materie gleichermaßen in diesem Halo. Die meisten scharfen Punkte im Bild sind Vordergrundsterne aus der Milchstraße. Bei vielen der um die Galaxie gehäuft vorhandenen, in Großansicht gerade noch wahrnehmbaren Lichtpunkte handelt es sich um einige der 12.000 Kugelsternhaufen der Galaxie.

(Bild: Chris Mihos (Case Western Reserve University)/ESO, CC BY-SA 4.0)

Um aus der Bewegung eines Kugelsternhaufens auf die Masse einer Galaxie zu schließen, müsste man dessen Bewegung im dreidimensionalen Raum in Erfahrung bringen, dann könnte man seine Bahn und daraus die zentrale Masse ermitteln. Da andere Galaxien fürchterlich weit entfernt sind, kann man die winzige Eigenbewegung ihrer Kugelsternhaufen in der Himmelsebene jedoch nicht nachweisen, man kann nur die Verschiebung der Lichtwellenlängen aufgrund des Doppler-Effekts messen, die auf denjenigen Anteil ihrer Bewegung zurück geht, der auf den Beobachter zu oder von ihm weg gerichtet ist ("Radialgeschwindigkeit").

Aus statistischen Erwägungen folgt, welche Bewegungsenergie in einer Gruppe von Objekten steckt, die eine Masse umkreisen, wenn man ihre Radialgeschwindigkeiten kennt. Zusammen mit der räumlichen Verteilung um die Masse herum folgt über den sogenannten Virialsatz die Größe der umkreisten Masse. Der Virialsatz beschreibt, wie sich in einem Vielkörper-System die Energie der Objekte im Mittel zwischen Bewegungsenergie und Lageenergie aufteilt. Aus diesem Grund möchte man die Radialgeschwindigkeiten der Kugelsternhaufen um M87 und andere Galaxien wissen.

Um auf die tatsächliche Geschwindigkeit relativ zur Galaxie zu kommen, muss man deren kosmologische Geschwindigkeit subtrahieren, denn bekanntlich entfernen sich aufgrund der Hubble-Lemaître-Expansion des Universums alle Galaxien außerhalb der lokalen Gruppe von uns, umso schneller, je weiter entfernt sie sind. Bei der rund 53 Millionen Lichtjahre entfernten M87 beträgt diese Geschwindigkeit 1284 km/s.