Ålesund: Wie die "schönste Stadt Norwegens" versucht, dem Verkehr Herr zu werden

Wenn jemand Bilder von Ålesund postet, kommen als Reaktion oft "Ohs" und "Ahs". Doch das Städtchen in Westnorwegen kämpft mit (E-)Autos und Kreuzfahrtschiffen.

vorlesen Druckansicht 101 Kommentare lesen
Aussichtspunkt in Ålesund mit Besucherin

Aussichtspunkt in Ålesund mit Besucherin: Die Stadt wird von Autos und Touristen überflutet. Wie kann man dabei nachhaltig Mobilität herstellen?

(Bild: Samuel Taipale / VisitNorway.com)

Lesezeit: 9 Min.
Inhaltsverzeichnis

Es dürfte nur wenige Orte außerhalb Deutschlands auf dem Planeten geben, in deren Innenstadt es eine stolz nach Kaiser Wilhelm dem II. benannte Straße gibt. In Ålesund an der norwegischen Westküste, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Bergen und Trondheim gelegen, ist das so. Denn der deutsche Imperator trug während seiner Amtszeit entscheidend dazu bei, das Städtchen mit seinen heute 67.000 Einwohnern nach einem verheerenden Brand wieder aufzubauen – und dafür ehrt man ihn noch heute. Der bekennende Norwegenfreund lieferte Baumaterial und Baumeister direkt ins heutige norwegische Bundesland (Fylke) Møre og Romsdal, die eine wunderschöne kleine Jugendstilmetropole zauberten, von deren Ruf die Stadt heute immer noch zehrt. So wird sie in sozialen Netzwerken schon mal zur "schönsten Stadt der Welt" (oder zumindest zur schönsten Stadt Norwegens) erklärt, weil sich die Bauten so pittoresk über mehrere Inseln im Meer verteilen.

Videos by heise

Das Problem mit diesem Image ist, dass es Jahr für Jahr mehr Touristen anzieht. Sie kommen mit Kreuzfahrtschiffen an, von denen manchmal vier gleichzeitig am Kai liegen und die Bevölkerung der Innenstadt mal eben verdoppeln bis verdreifachen. Hinzu kommen Touristenbusse, die von hier aus ins Fjordnorwegen starten, gerne in Form von Tagesausflügen. Und dann wäre da noch das Problem, dass die Einwohner selbst für erstaunliche Mengen an Verkehr sorgen: Das größte Einkaufszentrum der Stadt liegt samt diversen Firmen und Arbeitsplätzen zehn Kilometer entfernt, sodass die Menschen regelmäßig mit dem Auto hin und her pendeln. Erschwerend kommt hinzu, dass die Insel mit Ålesunds Innenstadt durchfahren werden muss, um in die westlichen Wohngebiete zu gelangen.

Im Hinblick auf Luftverschmutzung ist das alles zum Glück nicht mehr so schlimm. Während man bei den Kreuzfahrtschiffen zunehmend auf Landstromversorgung setzt, sie also nicht mehr ihre schmutzigen Schiffsdiesel laufen lassen müssen, sind auch die Autos mittlerweile meist fossilfrei. Wie mittlerweile bekannt sein dürfte, ist Norwegen europäischer Weltmeister beim Kauf und Einsatz von Elektrofahrzeugen. Schon vor zehn Jahren standen hier die Teslas Stoßstange an Stoßstange, mittlerweile sind Benziner und Diesel gefühlt in der Minderzahl. Ein Elektro-BMW reiht sich an den E-MG, den E-Kia oder den BYD Seal, dessen chinesische Herstellerfirma in der Stadt Ålesund sogar eine Filiale betreibt.

Blick zum Ålesunder Hafen: Aus dieser Richtung kommt der Touristenstrom.

(Bild: Ben Schwan)

Seit Jahren also steht Ålesund regelmäßig vor dem Verkehrskollaps. Es gibt Stau und für diesen kleinen Ort völlig untypische überfüllte Fußgängerzonen, die Menschen kommen in der Rushhour kaum über die Straße. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum AMFI Moa fährt man mehrere Kilometer mitten durch ein Wohngebiet, dessen Hausbesitzer sich ihr Leben sicher anders vorgestellt haben. Da auch die Busse im gleichen Stau stehen, gibt es kaum Anreize, auf den ÖPNV umzusteigen. Fahrradfahren ist in Ålesund indes fast kein Thema. Das liegt nicht nur daran, dass es quasi keine Radspuren gibt, sondern vor allem an der Geografie: Entweder fehlt der Platz für Wege – ohne Fußgängern etwas abzuknapsen – oder die Berg- und Talfahrt über die Inseln machen die Bewegung auf zwei Rädern nur mit dem E-Bike sinnvoll möglich. Dennoch gibt es unter den Stadtbewohnern begeisterte Radler, die am Wochenende die Fjorde hoch und runter strampeln.

Wie also, fragt sich die Stadtverwaltung seit Jahrzehnten, könnte man die Verkehrssituation in Ålesund verbessern? Eine kleine Ewigkeit wurde darum gestritten. Was auch daran lag, dass die Menschen in Møre og Romsdal bekannte Pfennigfuchser sind ("die Schotten Norwegens") und allergisch auf Mautgebühren reagieren, mit denen in Norwegen traditionell große Bauprojekte zumindest teilfinanziert werden. Doch eines Tages war dann genug mit dem Frust. Ein sogenanntes Bypakke, ein Stadtpaket, wie man in Norwegen große Verkehrsprojekte in den Metropolen nennt, sollte her – für 4 Milliarden Kronen, rund 340 Millionen Euro. Nachdem Gemeinde, Bundesland, Straßenverwaltung sowie die Osloer Ministerien für Verkehr und Finanzen zugestimmt hatten, begann 2021 der Ausbau. Die Ålesunder gehen dabei recht clever vor und kombinieren Zuckerbrot und Peitsche. So werden die Straßenverbindungen parallel zu einem verbesserten Bus- und Radwegenetz ausgebaut. Es scheint also für jeden etwas dabei zu sein.

Innenstadt von Ålesund: Aus der Durchfahrtsstraße wurde ein Busweg – für den kleinen Ort eine ganz neue Entwicklung.

(Bild: Ben Schwan)

So wird genau dort, wo die armen Menschen im Wohngebiet jeden Tag eine Autoschlange sehen, ein Tunnel mit zwei Röhren hergestellt – ein Novum in diesem Teil Norwegens, wo es normalerweise maximal eine Röhre mit drei Spuren gibt. Hierin soll der Verkehr verschwinden und wenn möglich störungsfrei fließen. Die 15.000 Fahrzeuge am Tag – bei wie erwähnt 67.000 Einwohnern, von denen viele in Vororten leben – müssen sich die Tunnel allerdings mit einem Expressbus teilen. In der Innenstadt selbst soll es einen zweiten neuen Tunnel geben, der die Pendler umleitet. Für den ÖPNV gibt es diverse neue Knoten, neue Bushaltestellen und Busspuren. In der Innenstadt, ausgerechnet in der Kaiser Wilhelm dem II. gewidmeten Straße, gibt es einen reinen Busweg, auch das in diesem Teil Norwegens eine neue Erfindung. Zusammen mit einer teilweise nur für den Busverkehr freigegebenen Straße ersetzen diese beiden "Langhaltestellen" einen in die Jahre gekommenen Busbahnhof, auf dem nun neu gebaut werden kann.

Zwischenzeitlich war in Ålesund auch erwogen worden, ein besseres Nahverkehrsmittel einzusetzen als nur den Bus. Denn der Hauptverkehrsstrom in der Stadt – vom sogenannten Einfahrtsweg um das große Einkaufszentrum AMFI Moa bis zur Innenstadt und darüber hinaus, der wie erwähnt ständig hin und her brandet – könnte eigentlich gut mit einer Straßenbahn bewältigt werden, die nicht zu lang sein müsste. Vorbilder wie das (deutlich größere) Bergen weiter südlich zeigen, dass das möglich ist, selbst auf relativ schmalen Inseln.

Jugendstilbebauung in Ålesund: Hier friedlich am Sonntag, doch an Werktagen und bei Kreuzfahrtbesuchen im Sommer hackedicht.

(Bild: Ben Schwan)

Eine Linie, die auf eigenem Gleiskörper ständig Grün hat, könnte das Stadtgebiet abpendeln und würde damit zentrale Teile der Bevölkerung erreichen. Der Vorschlag wurde jedoch nie wirklich ernsthaft diskutiert, da er der Gemeinde anscheinend zu utopisch erschien. Im ganzen Bundesland Møre og Romsdal gibt es bislang nur eine einzige Eisenbahnlinie, die zudem nur die erste Stadt hinter der Fylkegrenze erreicht, daher vor allem Touristen und – sofern sich ein Betreiber findet – Güterverkehr dient. Deshalb entschied man sich für das Bypakke, bei dem den Bussen auf den neuen Straßen mehr Platz eingeräumt werden soll.

Natürlich hat das Verkehrsprojekt auch einen Pferdefuß, der es schwierig auf andere Regionen etwa in Deutschland übertragbar macht: Die Finanzierung erfolgt wie erwähnt vor allem per Maut. Und die ist gesalzen. Gezahlt wird dabei pro Durchfahrt an zwölf verschiedenen Mautstationen, die die Kennzeichen abscannen oder einen kleinen Sender, den sogenannten AutoPass, den man auch in anderen Regionen Norwegens verwenden kann, auslesen.

Wer in der Stadt auch nur irgendwohin will mit seinem Auto, sei es zum Einkaufen, zur Arbeit, zum Sport oder zur Schule, stößt also auf die Straßengebühr. Pro einzelner Durchfahrt werden, bei vorab vorhandenem Abbuchungsvertrag mit der Mautgesellschaft, 24 Kronen, also aktuell knapp 2 Euro, fällig. Für die in Norwegen traditionell geförderten E-Autos sind es 12 Kronen (1 Euro). Es gibt einen Maximalsatz, den man zahlen kann: 1440 Kronen im Monat für Diesel und Benzin, 720 Kronen für E-Autos. Ist man darunter, blecht man voll. Da die Stadt mittlerweile verstanden hat, dass die Stromer genauso viel Straßenplatz verbrauchen wie die Verbrenner, werden die Preise für E-Fahrzeuge demnächst angehoben, bleiben allerdings unter denen für Fossile.

Wer, wie viele hier, viel pendelt, zahlt also bei einem Verbrenner aktuell also maximal rund 120 Euro im Monat, mit Stromer knapp 60. Lkw sind teurer, werden mit 60 Kronen pro Durchfahrt (5,10 Euro) belastet, was wiederum Auswirkungen auf die Produktkosten etwa im Lebensmittelbereich haben könnte, die in Norwegen ohnehin traditionell hoch sind. Wer keinen Vertrag hat – etwa als Besucher –, muss als Autofahrer 30 Kronen (2,55 Euro) löhnen, egal ob mit Stromer oder Benziner.

Wie in Norwegen üblich, wird die Maut nicht nur während der Bauphase, sondern auch darüber hinaus zu zahlen sein – möglicherweise über Jahrzehnte. Ein großes Tunnelprojekt in den Achtzigerjahren, das die umliegenden Inseln samt dem Flughafen von Ålesund über eine Festverbindung anbindet, war erst 2009 – nach 22 Jahren – für die Nutzer abbezahlt, ohne dass alle Schulden getilgt waren. Den Leuten schien das nichts auszumachen, waren sie doch die nervigen Fähren los, die einst genauso viel kosteten wie eine einzelne Tunneldurchfahrt. Trotz aller Proteste werden solche Projekte im reichen Norwegen noch immer mittels Maut umgesetzt, auch wenn konservativ-liberalistische Parteien wie die Fortschrittspartei dagegen Sturm laufen. Der Staat findet, dass die Infrastruktur durch die Nutzer zumindest mitbezahlt werden muss.

(bsc)