Erdbeben in Japan: Arbeiten gegen die Nuklearkatastrophe [2. Update]

Die Zahl der Vermissten und Toten in Japan liegt inzwischen bei über 17.000. Externe Kühlung und die baldige Wiederherstellung der Stromversorgung sollen im außer Kontrolle geratenen AKW Fukushima Daiichi eine Nuklearkatastrophe verhindern.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1133 Kommentare lesen
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Jürgen Kuri

Die japanischen Behörden beziffern nach dem Erdbeben der Stärke 9,0 und dem folgenden Tsunami am 11. März mittlerweile die Zahl der Toten und Vermissten auf über 16.000; die Zahl der Toten liegt derzeit bei über 6400, zudem werden 10.200 Menschen noch vermisst. In den nächsten Tagen dürften die Opferzahlen aber noch steigen, heißt es in japanischen Medien, da nicht alle Toten oder Vermissten bereits bei der Polizei registriert seien. Rund 500.000 Menschen in Japan sind obdachlos. In einigen Teilen der von Beben und Tsunami verwüsteten Gebiete harren die Betroffenen ohne intakte Wasser- und Stromversorgung in teilweise bitterer Kälte aus; es kommt zu großen Versorgungsengpässen, da die Menschen alle Nahrungsvorräte durch die Katastrophe verloren haben, Hilfslieferungen aber aufgrund der zerstörten Infrastruktur nur schwer zu den Betroffenen gelangen. Der Wiederaufbau der notwendigen Infrastruktur in den Erdbebengebieten macht aber mittlerweile Fortschritte.

Im außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, das aus insgesamt 6 Reaktoren besteht, kämpfen Mitarbeiter von Tokyo Electric Power und Freiwillige vor Ort weiter damit, die Reaktoren und die Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente ausreichend zu kühlen, um eine größere nukleare Katastrophe zu verhindern. Der aktuelle Statusreport des japanischen Nuklearforums vom 18. März 16:00 japanischer Zeit (8:00 mitteleuropäischer Zeit) führt für die Reaktoren 5 und 6 keine Probleme auf, allerdings ist die Temperatur in den Abklingbecken erhöht. Bei den Reaktoren 1, 2 und 3 sind die Brennelemente bzw. der Reaktorkern beschädigt, die Kühlsysteme funktionieren nicht. Die Brennstäbe in diesen Reaktoren liegen vollständig frei. die Gebäude von Reaktor 1 und 3 sind stark, das von Reaktor 2 leicht beschädigt. Bei Reaktor 1 soll das Containment intakt sein, bei Reaktor 2 vermutet man Beschädigungen, bei Reaktor 3 ist der Zustand des Containments unklar. Im Reaktor 3 ist zudem das Wasserniveau im Abklingbecken für verbrauchte Brennstäbe zu niedrig. Bei Reaktor 4, dessen Gebäude schwer beschädigt wurde, ist das Wasserniveau im Abklingbecken ebenfalls zu niedrig, eine radioaktive Dampfwolke war bereits ausgetreten. Im Statusreport des Atomforums ist eine Überblickskarte zu den japanischen Atomkraftwerken enthalten, laut der insgesamt vier Kraftwerke in von Beben und Flutwelle betroffenen Gebieten liegen, von denen aber drei AKW (Onagawa, Fukushima Daini und Tokai) in einem sicheren und kontrollierten Status sind.

Auch die UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA hat mittlerweile eine Slideshow ihrer Lagebesprechung zum AKW Fukushima Daiichi ins Internet gestellt. Die Foliensammlung zeigt unter anderem Infografiken von Siedewasserreaktoren. Auch das Schwarzweiß-Foto eines solchen Siedewasserreaktors im Rohbau ist zu sehen. Eine Folie zeigt auch eine Tabelle mit den detaillierten Schadensbeschreibungen an den Reaktoren 1 bis 4.

Am Donnerstag wurde mit Hubschraubern, Wasserwerfern und Löschfahrzeugen versucht, zumindest die besonders kritischen Abklingbecken in Reaktor 3 und 4 des Kraftwerks so weit mit Kühlwasser zu versorgen, dass keine weitere Radioaktivität austritt und die Brennelemente besser mit Wasser bedeckt sind. Am Freitagnachmittag japanischer Zeit wurden die Versuche, mittels Wasserwerfern und Löschfahrzeugen zu kühlen, wieder aufgenommen, rund 50 Tonnen Wasser sollen gesprüht werden. Weitere Löschgeräte, um Wasser in die Reaktoren und Abklingbecken einzubringen, sollen im Laufe des Freitag eingesetzt werden. Wie Regierungssprecher Yukio Edano gegen 17:00 japanischer Zeit (9:00 mitteleuropöäischer Zeit) betonte, sei es so gut wie sicher, dass das eingebrachte Wasser auch die Abklingbecken erreiche.

Die Radioaktivität im Kraftwerk ist weiter stark erhöht, an manchen Stellen werden bis zu 20 MilliSievert pro Stunde gemessen. Die letzten von der UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA bestätigten Messungen von Mittwoch ergaben am Haupttor des Kraftwerks Fukushima Daiichi bis zu 11,9 MilliSievert pro Stunde. Direkt zwischen den Reaktoren 3 und 4 war zeitweise eine Dosis von 400 MilliSievert pro Stunde gemessen worden; dabei habe es sich aber um eine lokal begrenzte Strahlungsdosis gehandelt. Nach Angaben des Kraftwerksbetreibers Tokyo Electric Power sind die gemessenen Radioaktivitätswerte rund 1 Kilometer entfernt von Reaktor 2 am Freitagmorgen langsam gesunken. Um 11:00 japanischer Zeit (3:00 mitteleuropäischer Zeit) betrug die Dosis 265 MikroSievert pro Stunde, am Donnerstag um 20:40 japanischer Zeit lag sie noch bei 292,2 MikroSievert pro Stunde. Laut IAEA ist aufgrund der natürlichen Radioaktivität in der Umwelt für jeden Menschen eine Dosis von 2,4 MilliSievert pro Jahr normal; laut den aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Strahlenschutz liegt die derzeitige Dosis in Deutschland auch in den stärksten von natürlicher Strahlung betroffenen Gebieten unter 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr).

Bei den Reaktoren 1, 2 und 3 sind die normalen Kühlsysteme komplett ausgefallen; nachdem am Donnerstag Arbeiten zum Verlegen einer Stromleitung von Hochspannungsleitungen in der Nähe des Kraftwerks zu den Reaktoren aufgenommen wurden, hieß es vom Kraftwerksbetreiber am Freitag, man hoffe, die Stromversorgung für die Kühlsysteme am Samstag wieder intakt zu haben und die Kühlsysteme anlaufen lassen zu können. Ob sie allerdings überhaupt noch funktionieren, wird sich dann erst herausstellen. Derzeit jedenfalls ist das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi noch außer Kontrolle, die Arbeiten zur Kühlung und Wiederinbetriebnahme der Kühlsysteme machen nur langsam Fortschritte. Der Betreiber schließt mittlerweile laut einem BBC-Bericht nicht aus, dass ein großflächiges Einbetonieren der Reaktoren zur Verhinderung einer größeren Nuklearkatastrophe doch notwendig wird. Erste Priorität hätten aber die Versuche, die Reaktoren herunterzukühlen und die Situation dadurch wieder in den Griff zu bekommen.

[1. Update (18.3., 13:20): Laut IAEA haben die japanischen Behörden die Einstufung der Vorfälle in Fukushima Daiichi nach der International Nuclear Events Scale (INES) angehoben. Hieß es vor kurzem von der japanischen Atomaufsichtsbehörde NISA noch, der Notfall sei auf Stufe 4 (accident with local consequences) anzusiedeln, werden zumindest die Beschädigungen der Reaktorkerne in den Reaktoren 2 und 3 nunmehr auf Stufe 5 (accident with wider consequences) eingeordnet. Sowohl der Verlust der Kühlung für die Reaktoren 1, 2 und 4 als auch derjenige für die Abklingbecken im Reaktor 4 werden auf Stufe 3 (serious incident) eingeordnet. Andere Aufsichtsbehörden stufen nach den vorliegenden Informationen die Schwere des Unfalls in Fukushima Daiichi allerdings höher ein: Bereits am 15.3. hatte die französische Nuklearaufsichtsbehörde erklärt, sie stufe die Vorfälle in Fukushima Daiichi auf INES unter 6 (serious accident) ein. Der Atomunfall in Tschernobyl war auf der höchsten Stufe 7 eingeordnet worden, der Unfall in Harrisburg (Three Mile Island) auf Stufe 5.

Der japanische Premierminister erklärte in einer Rede am frühen Nachmittag mitteleuropäischer Zeit, die "nukleare Krise" gebe immer noch wenig Anlass für Optimismus, die Situation in Fukushima Daiichi sei weiterhin sehr ernst. Er gehe aber davon aus, dass man die Situation bald in den Griff bekommen werde. Er sei sich sicher, dass Japan die "schwerste Krise seit dem 2. Weltkrieg" bewältigen werde.

Mit den Aktionen, Wasser mit Löschfahrzeugen in die Reaktoren und Abklingbecken zu sprühen, sind laut japanischen Angaben 50 Tonnen Wasser eingebracht worden. Man gehe davon aus, dass das Wasser auch sein Ziel erreicht habe. Weitere Kühlungsversuche mit Löschfahrzeugen sollen noch am Freitag von Einheiten der Tokioter Feuerwehr unternommen werden. Am Samstagmorgen japanischer Zeit soll laut Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power zudem die Stromversorgung zumindest bei Reaktor 4 wieder funktionieren.]

[2. Update (18.3., 16:40): Die Opferzahlen in Japan steigen immer noch weiter. Derzeit geben die japanischen Behörden laut der Nachrichtenagentur Kyodo die Zahl der Toten mit 6911 an, insgesamt beträgt die Zahl der Toten und Vermissten über 17.000. Die Situation der Betroffenen in den Erdbeben- und Flutgebieten bleibt extrem kritisch. Laut BBC erklärte die Geospatial Information Authority of Japan (GSI), dass von dem Tsunami in Folge des Erdbebens 400 Quadratkilometer überflutet wurden; diese Zahl wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach noch erhöhen, da noch nicht alle Unterlagen über die betroffenen Gebiete ausgewertet wurden.

Für die japanische Industrie haben Erdbeben und Flutwelle große Auswirkungen, die nach und nach deutlicher werden. So erklärte Sony, dass sechs der Produktionswerke des Konzerns bis auf weiteres geschlossen bleiben. Dazu gehören Werke, die unter anderem Blu-ray-Discs, Lithium-Ionen-Akkus, Laser und optische Geräte herstellen. Kurzfristig erwartet eine Sony-Sprecherin laut Kyodo Auswirkungen auf die Fähigkeit von Sony, Komponenten und Geräte zu liefern; man untersuche derzeit, welche Auswirkungen dies etwa auf die weltweite Verfügbarkeit von Unterhaltungs- und anderer Elektronik haben werde. Sharp dagegen erklärte, das die Produktionsstätten von LCD-Panels und -TVs nicht größer beschädigt seien.

Den Zustand der sechs Reaktoren in Fukushima Daiichi hat die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in einer Übersicht (Stand: 18.3., 12:30 mitteleuropäischer Zeit) zusammengefasst. Die Reaktoren 1 und 2 werden demnach weiter mit Meerwasser notgekühlt, bei beiden wird von beschädigten Reaktorkernen ausgegangen. Das gleiche gilt für Reaktor 3, bei dem es zusätzlich Probleme mit dem Abklingbecken gibt. Im zur Zeit des Bebens abgeschalteten Reaktor 4 war zu diesem Zeitpunkt auch der Kern vollständig aus dem Reaktor entladen; das Abklingbecken für abgebrannte Brennstäbe, das über Aktionen mit Wasserwerfern und Löschfahrzeugen zu kühlen bzw. wieder aufzufüllen versucht wird, hatte dafür die doppelte Menge an Brennelementen als normal geladen. Bei den Reaktoren 5 und 6 ist der Kern intakt, zum Zeitpunkt des Bebens waren die Reaktoren abgeschaltet. In beiden Reaktoren gibt es aber sinkende Wasserstände und über das Normalmaß hinaus erhöhte Temperaturen in den Abklingbecken. Die Arbeiten zur Kühlung der Reaktoren und zur Wiederherstellung der Stromversorgung, um die Kühlsysteme möglicherweise wieder in Betrieb nehmen zu können, gehen in der Nacht von Freitag auf Samstag weiter.

Der britische Guardian hat Listen und Karten über die weltweit betriebenen Atomkraftwerke online gestellt. Technology Review erklärt in einem Hintergrundbericht die in Fukushima Daiichi aufgetretenen Strahlendosen, ordnet sie ein und beschreibt mögliche Auswirkungen von Strahlenbelastungen.]

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(jk)