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Was war. Was wird. Die JWWWW-Edition

Sind wir alle gut im neuen Jahr angekommen, oder haben einige zuviel aus den Rollmopsgläsern gesoffen? Indizien für ein beschädigtes Gehirn hat es in den letzten Stunden leider gegeben, meint Hal Faber, und widmet sich trotz allem noch einmal 2004.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Guten Morgen! Sind wir alle gut im neuen Jahr angekommen, oder haben einige nur zuviel Flüssigkeit aus den Rollmopsgläsern gesoffen? Indizien für ein insgesamt beschädigtes Gehirn hat es in den letzten Stunden ja genug gegeben. Gleich vorab: Dies ist nicht das freie Internet, dies ist ein Angebot des Heise-Verlages, der keine Zensur ausübt, wenn er auf die Einhaltung der Forenregeln besteht. Wer sich auskotzt, braucht Kleenex, kein Internet und kein Zeitschriftenabo. Ansonsten:

Glücklich, wer nicht vergisst,
dass kein Jahr je glücklich ist!
Glücklich kann doch allein
der, der Glück empfindet, sein.

Darum wünscht immerdar
Glück einander, nicht dem Jahr!
Es ist nicht einerlei,
wer am Ende glücklich sei.

So schrieb Bernt Engelmann. So sei es denn:

Was war.

*** Heiter soll man das alte Jahr Revue passieren lassen und das neue mit einem klugen Wort begrüßen. Das fällt schwer in diesen Tagen, in denen langsam das Ausmaß der Flutkatastrophe im indischen Ozean deutlich wird, dass unsere inneren Achsen nachhaltig verschiebt. Während wir mittels SMS, Instant Messaging und E-Mail problemlos mit Personen in Thailand oder Indien kommunizieren können, konnten sich die Flutwellen nach dem Erdbeben ausbreiten, ohne dass vor ihnen gewarnt wurde. Einzig in den indischen Kernkraftwerken an der betroffenen Küste reagierte man offenbar sofort auf die Tsunami und fuhr die Anlagen herunter. Für die Menschen reichte es nicht mit der Zeit, wie es für die Ärmsten an dieser Küste ohnehin kaum zum Leben reicht. Zu den schlimmen Nachrichten über die vielen Todesopfer unter den Einheimischen, die schlicht der unzureichenden Architektur und den Slums der Hüttendörfer geschuldet sind, gesellen sich die schlimmen Auswüchse der medialen Berichterstattung. Tageszeitungen, in denen ein blonder schwedischer Junge oder Ex-Bundeskanzler Kohl abgebildet sind, haben sich längst vom Kontext abgelöst, genau wie die Verbote, Lieder über Wellen im Radio zu spielen. In diesem Sinne müsste Andre Tolme der Sportler des Jahres sein.

*** Zu den bemerkenswerten Reaktionen auf die Flutkatastrophe zähle ich die Haltung von Apple, wo man die Homepage ohne wenn und aber räumte und bis zur Stunde auf die Spenden aufmerksam macht. Nun wird diese kleine Kolumne vom Heiseticker gehostet und bezahlt, wo die Redaktion voll des Argwohns ist, was billige Werbekampagnen anbelangt. Darum ist Apple keine Meldung wert, zumal nicht klar wird, wie sich Apple selbst engagiert. Reicht es schon aus, wenn man das kostbar gepflegte Instrument der Corporate Identity für einige Zeit komplett über den Haufen wirft? Machen es die anderen besser? Bestenfalls findet sich ein kleiner Button, der auf Spenden hinweist oder ein kleiner Text für die Wirtschaftspresse. Doch alle, alle haben sie ein großes Interesse am asiatisch-pazifischen Raum, in dem das goldene, immerwährende Wachstum winkt.

*** Das zeigt schon die Statistik des Newstickers, die zu Ergründeln die Pflichtübung jedes Rückblicks ist. Bis zum Stichtag des 23.12.2004 verzeichnete der Heise-Server in diesem Jahr 3.657.012.286 Zugriffe. China und Indien sind die meistgenannten Länder in den Ticker-Meldungen des abgelaufenen Jahres, mit großem Abstand vor den USA und Brüssel/Europa. Dabei spielen die Nachrichten über Auslagerungen (96.097.180 Zugriffe) wie die über den Kotau westlicher Unternehmen vor Chinas Herrschern die dominierende Rolle.

*** Aber auch sonst ist die Statistik für einige Überraschungen gut. Nehmen wir nur Apple. Die Firma und ihre Produkte haben eindeutig die früheren Jahres-Spitzenmeldungen über neue Rechner von Aldi und Lidl abgelöst. Selbst die sonst so dominanten Viren-Warnungen müssen sich da hintanstellen. Mit 96.110.361 Zugriffen führt diese Meldung die Top 100 der Nachrichten mit den meisten Zugriffen an. Fast scheint es so, als sei die Generation iPod auch beim Heiseticker angekommen.

*** Doch die konsumfreudigen Durchstarter sind nicht so dominant, wie es den Anschein hat. Über mehrere Top-100-Meldungen verteilt, ist die Frage der Softwarepatente mit 330.301.731 Zugriffen das dominierende Thema des Jahres 2004 bei den Heise-Lesern gewesen, gefolgt von den amerikanischen Bemühungen um die Homeland Security und ihre schleichenden Übergriffe auf deutsche Bürgerfreiheiten. Während Microsoft wie immer mit großem Abstand die meistgenannte Firma der Tickermeldungen des Jahres 2004 stellt, überraschen Yahoo und Google mit den Plätzen 2 und 3. Oder auch nicht: Yahoos Lavieren mit den chinesischen Behörden wie Googles Datenschutzproblem bei Gmail beschäftigten viele Leser. In der Sparte Hardware siegte die bereits erwähnte Meldung zu Apples eMacs, bei der "Software" schafften es Spam und Phishing, den ersten Platz vor der Online-Musik und den Aktionen der Musikindustrie zu verteidigen, während als Einzelmeldung eine Nachricht über eMule mit 94.130.043 Zugriffen zum Sieger erklärt werden kann.

*** Nun gibt es ein Leben außerhalb des Newstickers. Vor der Flutwelle verblassen Erinnerungen an die Terror-Anschläge in Madrid und das Schulmassaker in Beslan. Genauso verblasst die Erinnerung daran, dass in der öffentlichen Diskussion IT-Themen das ganze Jahr über eine prägende Rolle spielten -- und das nicht nur durch die EU-Strafe gegen Microsoft, bei deren Beurteilung seltsamerweise immer eines vergessen wird: Die teilweise Verbannung des Media-Players, eine der Auflagen der EU-Kommission, ist angesichts der Verbindung von verschiedenen Media-Playern mit den jeweiligen Online-Musikshops nicht so lächerlich, wie manche Leute meinen. Aber was ist schon Microsoft: Die Biometrie in Reisepässen und den Stadion-Tickets zur kommenden Fußball-WM, die Datenbanken zum Kampf gegen den Terror und die unaufhörliche Lust der Politik, das Internet zu regulieren, produzierten jede Woche Schlagzeilen in der allgemeinen Presse. Das Thema Linux in der Stadt München schaffte es bis auf die Seiten der Provinzzeitungen, und die Profilierung deutscher Kids als Viren-Schreiber ließ sich dann selbst von einem ewig grinsenden Horst Köhler nicht zum Zeichen der Aufbruchstimmung ummünzen. IT-Flops wie die LKW-Maut, das EDV-Beschaffungsprojekt der Bundeswehr und die mit heißer Nadel gestrickte Software für das Arbeitslosengeld II wurden häufig diskutiert. Selbst so sperrige Sachen wie der zweite Korb des Urheberrechtes beschäftigten die Öffentlichkeit allenthalben. Mit den GEZ-Gebühren für Internet-PC konnte auch der letzte Bundesbürger erfahren, dass ein anderes Zeitalter längst angebrochen ist. Mit den Blogs bekamen Journalisten eine hervorragende Steilvorlage, sich nur noch mit ihrem Lieblingsthema (den Journalisten) zu befassen. Und die Wikipedia taperte als Thema wie ein Wissens-Igel durch die Blätter, um ganz zum Schluss in der letzten Ausgabe der FAZ dort anzukommen, wo man immer hinwollte: "Auch wir wollen einen Ledereinband haben." Wie schön, dass diesem Newsticker nicht solche Gefahren drohen, denn Nachrichten sind immer von gestern.

Was wird,

Gestern war gestern, doch ab heute wird natürlich alles anders werden. Her mit den guten Vorstätzen, weg mit den falschen Worten. Hurra! Debian-GNU/Hurd kommt und wir alle sind nur noch ein paar Tippelschritte vom Paradies entfernt, in dem Jimi Hendrix ständig Voodoo Child spielt. Doch im forschen Blick nach Vorne wagen wir doch einmal den Rückblick wie der Engel der Geschichte. Denn vor 10 Jahren erklärte die CeBIT in den Januar-Blättern des nettesten Verlages der Welt den Lesern, was Out ist: "Nur sehen, nur hören, Daten nur eindimensional verstehen, das ist vorbei. Wer wissen will, wie es dank Multimedia auch anders geht, kommt zur CeBIT."

Ja, wie war das nochmal mit den eindimensionalen Daten. Groß putzt sich 2005 als das Einstein-Jahr heraus, will auch das Gauss-Jahr und das Schillerjahr sein, Alle sind sie so mächtig stolz auf die deutschsprachigen Titanen, dass ich nicht umhin kann, das neue Jahr zum Bob Marley-Jahr zu küren. Denn gute Musik wird dringend benötigt, wenn die Freiheit scheibchenweise serviert und vergessen wird. Es gibt Fortschritte. Seit dem 29. Dezember sind die Abhörbefugnisse der Zollfahnder bei den Telefonaten beschnitten, auch der Große Lauschangriff darf nicht so groß ausfallen. Dafür soll es bald leichter für Behörden sein, die E-Mail zu überwachen. Und was die Datensammelleidenschaft der Behörden angeht, so zeigt Hartz IV, wie man schnurstracks zum gläsernen Bürger kommt. Die Ärmsten zuerst, der Rest 2005?

So bleibt zum Ausblick der Rückblick, und zwar auf ein Jahr, das auch als Kant-Jahr begann: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" (Hal Faber) / (jk)