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Was war. Was wird. Mit pentekösterlichen Gedankensplittern und musikalischen Listen

Wenn Adorno über die Massengesellschaft rantet, der BND fröhliche Urständ feiert und die Zehn Gebote Digitaliens theologische Wege aufzeigen, ist es Zeit für die einsame Insel, befürchtet Hal Faber. Der aber wenigstens weiß, welche Musik er mitnimmt.

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Frau Mahlzahn

Nein, hier geht es nicht um Katzen. Aber vielleicht um die Freiheit, die sie sich nehmen.

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Mai, Mai, at Waterloo, da steht ein Geschichtsbuch im Regal und selbige wiederholt sich laufend, ein netterMythos. So sind rechtzeitig zum European Song Contest mit krimtatarischen Favoriten fette Analysen zum Geschrammel von Abba fällig, wo es doch einfach nur passierte.
"Der Kitsch ist jenes Gefüge von Invarianten, das die philosophische Lüge ihren feierlichen Entwürfen zuschreibt. Nichts darin darf sich grundsätzlich ändern, weil der ganze Unfug der Menschheit einhämmern muss, dass nichts sich ändern darf."

*** So schön durfte nur Adorno über den Schund der Massengesellschaft ranten. Derweil ist am Rande der norddeutschen Tiefebene das große Kopfkratzen ausgebrochen. Angefangen hat es mit der Frage, die Robert Darnton in seinem Buch über die Zensoren stellt: "Wo ist im Cyberspace der Norden?" Da, wo die norddeutsche Tiefebene aufhört oder noch nordiger? Und warum braucht es überhaupt einen Norden im Cyberspace? Darnton erklärt die harmlose Frage zu einem moralischen Problem und schreibt von Chinas "Großer Firewall" und der uneingeschränkten Überwachung durch die NSA als Beispiele für Staaten, die ihre Interessen auf Kosten des Einzelnen durchsetzen.
"Hat die moderne Technologie eine neue Gewalt geschaffen, die das Gleichgewicht zwischen der Macht des Staates und den Rechten der Bürger aus der Balance gebracht hat? Vielleicht, aber deswegen dürfen wir nicht annehmen, dass dieses Gleichgewicht in der Vergangenheit unangefochten gewesen wäre."

*** Abba hatten unrecht, von wegen "The history book on the shelf is always repeating itself". Das sieht man schon daran, dass im vorrevolutionären Frankreich verbotene Bücher, die "im Ausland" quasi mit verschleierter IP-Adresse gedruckt wurden, von einer speziellen Bücherpolizei aufgestöbert wurden. Anschließend wurden sie einem Henker übergeben, der praktischerweise (neudeutsch: dual use) neben dem Abschlagen von Köpfen für das Zerreißen und Verbrennen von Büchern zuständig war. Jedenfalls, solange der Polizeiinspektor nicht korrupt war und selbst mit verbotenen Büchern handelte. Übrigens ist in Darntons Buch nicht von der Internetüberwachung und -Zensur die Rede, die manchen Rezensenten beschäftigt.

*** Ja, in dieser Woche hatte kein Staat, sondern Facebook ordentlich damit zu kämpfen, dass kein Algorithmus, sondern Menschen wie du und ich die Ergebnisse prüfen, die von RSS-Feeds aufgehäuft werden. Sapperlot nochmal, denn natürlich sind Menschen nicht wertneutral, erst recht nicht Journalisten. Nun gut, da bleiben wir doch lieber bei Google, wo die Demokraten immer besser davonkommen als die Republikaner. Jedenfalls sind wir dann davor sicher, dass Facebook keine Wahlen entscheidet.

*** Wer nicht auf Schlager abfährt, hat es vielleicht mit den Chorälen und Kirchen. Zu einem digitalen Pfingstwunder gehört die Erkenntnis, dass mindestens ein Gott online ist und über dem Internet der Dinge thront. Nehmen wir also die Transzendenz-Hinweise der Digitalisierung ernst, auch wenn die 10 Gebote des Cyberspace bei den kritischen InformatikerInnen leider nur in der Papierform ihrer lesenswerten FIfF-Kommunikation stehen. Besonders passend für den aktuellen Wochenendsermon ist das sechste Gebot von Pfarrer Gernot Meier. Nein, nix mit Ehebruch:
"6. Gott hat uns den Geist der Freiheit geschenkt, der uns frei machen wird. Deshalb: Du sollst nicht einfach glauben, was du in deiner eigenen Informationsblase zu lesen, sehen und hören bekommst.
Das Konzept des freien Wissens, der freien Zugänglichkeit zu allen Informationen, des bunten, fröhlichen sozialen Lebens im Netz ist nicht deshalb schlecht, weil Überwachungseinrichtungen es konterkarieren"

*** Höchst aktuell zählt der Badener Theologe Netzneutralität, offene WLANs ohne Zombie-Störerhaftung und offene Software zu den Voraussetzungen seiner Internet-Religion von der Rückeroberung des Netzes als "freie Medienverbundmaschine". Solchermaßen pfingstlich eingestimmt, darf auch das 3. interchristliche Gebot nicht fehlen, weil es in dieser Welt der Überwacher, Überwachungsdienste und Verfassungsschützer ohne Handlungsmöglichkeiten wichtig ist, selbst, wenn man die theologische Schlagseite nicht mag. Verschlüsselung aus christlicher Nächstenliebe, das geht so:
"3. Uns ist der andere als Bruder und Schwester in Christus anvertraut. Deshalb: Du sollst die Integrität deines Nächsten schützen.
Viele Menschen haben nicht die Möglichkeit, sich mit Verschlüsselung zu schützen, d.h., sie können oder dürfen diese nicht nutzen. Das bedeutet zurzeit, die Welt der Computernutzer zerfällt in die, die sich abschirmen und schützen können, und in den Rest. Wenn es mein Nächster oder meine Nächste nicht vermag, ist sie diesem Treiben hoffnungslos ausgeliefert. Wenn ich aktiv anfange, mich zu schützen und auf meine Integrität achtgebe, wenn ich anfange, einen Kreis um mich zu ziehen, in den keiner, den ich nicht eingeladen habe, hineinkommen darf, dann werden sich langsam digitale Kulturtechniken entwickeln, die es allen ermöglichen, so zu handeln. Im Umkehrschluss bedeutet das, wenn ich mich nicht schütze, bin ich nicht nur selber schuld, sondern jede Datei, jede E-Mail, jede Information, die unverschlüsselt durch das Netz gesendet wird, schützt auch meinen Nächsten nicht und verändert das System auf Dauer nicht."

*** Da passt auch eine christlich-soziale Position zu den Geboten, die im Geburtstagsständchen davon schwärmt, dass das Disruptive zum Normalen wird. Das ist zwar ein schiefes Bild, weil es das Disruptive schlechthin nicht gibt, nur disruptive Technologien, die einer anderen Technologie oder einem Berufsstand den Garaus machen. Aber sich ausmalen können, wie Verschlüsselung greift und ein Akt der Nächstenliebe sein kann, kann mit der seltsamen Idee von der Existenz höherer Wesen versöhnen.

*** Ausgerechnet der BND, dessen Kunstpalme hier schon öfter zu sehen war, hatte die Feuilletons zur Besichtigung seines gigantomanischen Neubaus geladen, in dem auf jedem Schreibtisch zwei Computer stehen. Dort, im strengen Raster kleiner Fenster, wanderten die Kritiker und fragten sich angesichts ewiger Wiederholungen der Rechtecke: "Was macht das mit einem Menschen, wenn er in so einem Gebäude arbeitet?" Die Antwort zum Klotz am Bau, dem zweitgrößten Berliner Gebäudekomplex nach dem Flughafen Tempelhof, ist nicht eben schmeichelhaft. Wo Menschen Rechtecke werden, ist das Gebäude eine "gigantische Vereinzelungsanlage", steingewordener Ausdruck einer Behörde, die unfähig ist zu offener Kommunikation. Die Waben eines Überwachungsbienenstaates sollen den Bürger einschüchtern. Der Bau als Nichtgeist und Nichtgeschmack, eine Mischung aus Entehausen und Fort Knox, das passte bestens zu der Nachricht, dass Roland Berger und nicht etwa die parlamentarischen Kontrolleure den BND durchleuchten soll. Das ist noch von Gerhard Schindler und nicht vom Claudia-Roth-Bremsklotz Bruno Kahl veranlasst worden und eine schöne Kontinuität: Schließlich war der NSA-Spezialist Edward Snowden bei einer ebensolchen Beraterei angestellt, bei Booz Allen Hamilton. Vielleicht wird es doch noch was mit dem deutschen Whistleblower.

*** Und wenn doch nicht? Wenn angesichts der Nicht-Whistleblower, übermütig gewordener Nicht-Trolle und Dann-doch-ESC-Fans die einsame Insel eine ernsthafte Alternative wird? Dann fehlt doch wieder die Musik. Aber welche nimmt man nun mit auf eine einsame Insel, auf der es keinen BND, keinen DDoS-Möchtegernzensor und keine Volksmusik gibt? Gute Frage, also ist es mal  wieder Zeit für eine Liste. Was man auf eine einsame Insel mitnimmt, ist ja nicht unbedingt die Musik, die man zu normalen Zeiten immer hören würde – aber wohl doch die, die einem am meisten beschäftigt, beschäftigen kann, berückt, berauscht. Ich mach den Anfang. Möglicherweise oder vielmehr: wahrscheinlich sind die geneigten Leser anderer Ansicht - auch als alle anderen Leser. Nur her mit den Ideen, eine Leser-Liste kann es dann das nächste Mal geben, so denn genug Vorschläge eingehen.

  1. Miles Davis, Kind of Blue
  2. Steve Reich, Music or 18 Musicians
  3. Kendrick Lamar, To Pimp a Butterfly
  4. Charlie Haden's Liberation Music Orchestra, Ballad of the Fallen
  5. Emerson, Lake and Palmer, Welcome Back My Friends
  6. Esbjörn Svenson Trio, Live in Hamburg
  7. Luigi Nono, Al gran sole carico d'amore
  8. Talking Heads, Stop Making Sense
  9. Van Morrison, It's Too Late to Stop Now
  10. John Coltrane, A Love Supreme
  11. The Clash, London Calling
  12. John Zorn, Bar Kokhba Sextet: 50. Birthday Celebration Vol. 11
  13. Gang of Four, Entertainment!
  14. György Ligeti, Requiem
  15. Joy Division, Substance
  16. Morton Feldman, Patterns in a Chromatic Field
  17. Hüsker Dü, New Day Rising
  18. Orchestre International du Vetex, Flamoek Fantasy
  19. Fehlfarben, Monarchie und Alltag
  20. Peter Fox, Stadtaffe
  21. Colin Stetson, New History Warfare Vol. 1 - 3
  22. Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen
  23. 17 Hippies, Live in Berlin
  24. Wu-Tang Clang, Enter the Wu-Tang (36 Chambers)
  25. Isaac Hayes, At Wattstax

Was wird.

Ein seltsames Jubiläum wirft seine Schatten voraus: Am 16. Mai 1966 begann nach dem Scheitern des Großen Sprungs nach vorn mit einem Schreiben der "Gruppe für die Kulturrevolution des Zentralkomitees" die chinesische Kulturrevolution, die anderthalb bis zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Heute gilt sie als größter Ausbruch anarchistischer Massengewalt in einem totalitären Staat. Die Computerentwicklung wurde eingestellt und konnte erst 1973 wieder aufgenommen werden. Nach wie vor gilt das Tabu, über diese Phase mit ihren Greueltaten zu sprechen, an der das stolze China zerbrach. Niemals wollte man vom Zerplatzen aller revolutionären Ideale sprechen. Der heilige Geist war jedenfalls nicht in die Chinesen gefahren.

Und damit überlasse ich Abbaloide das Singen dem Computer, der kann es bekanntlich immer besser. (jk)