Motorradfahrer können nicht lenken

Klartext: Lenken lernen

In der deutschen Fahrschulausbildung kommt seit einigen Jahren endlich der paradoxe Lenkimpuls vor, der nötig ist, um ein Motorrad bewusst zu lenken. Vorher hat jeder gewurschtelt, wie er dachte.

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(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die Politik liebt einfache Antworten auf komplexe Probleme. Deshalb gibt es seit 2016 eine ABS-Pflicht für neu zugelassene Motorräder. Sie hat nichts Wesentliches an den Unfallzahlen geändert, weil die ABS-Kaufquote in Deutschland schon vorher bei rund 100 Prozent lag. Trotzdem fratzen sich immer noch viele Motorradfahrer. Der Hersteller KTM will jetzt guten Willen zeigen, indem das größte brachliegende Gebiet der Unfallvermeidung von Herstellerseite angegangen wird: das Fahrkönnen.

Die „KTM Riders Academy“ [sic] lagert diese Unternehmung auf den Fahrlehrer und Coach Klaus Schwabe aus, der sie dann im Auftrag mit handverlesenen Trainern durchführt. Damit die Ergebnisse der Schulungen nicht mehr nur gefühlt weitererzählt werden, sondern auch geprüft, arbeitet er mit dem Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften zusammen (WIVW GmbH), die qualitativ (offene Fragen auf Böden) und quantitativ (Ankreuzfragen und Messdaten) Daten der Teilnehmer vorher/nachher sammelt. Ich habe mir das angeschaut und fand die Ansätze gut. Prinzipiell funktioniert aber jeder Kurs mit einigermaßen vorhandener pädagogischer Struktur (eher selten, eher die teuren Angebote).

Wir sind schon auch selber schuld

Der Anlass zum Nachtraining ist groß. Die Zahl der Alleinunfälle (also ohne ursächliche Beteiligung eines anderen Verkehrsteilnehmers) schwankt je nach Erfassung. Nimmt man durch Befragungen alle Unfälle mit hinein, auch diejenigen, die nicht in der offiziellen Statistik landen, weil die Verunfallten selbst aufräumen, kommen Werte weit über 70 Prozent heraus. Das tat zum Beispiel David Hough für sein Buch „Sicher ankommen“. Die Bundesstatistik zählt 67 Prozent der Motorradtoten außerorts als „selbstverschuldet“ (also als Unfallauslöser oder Alleinunfälle). Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zählt hier 52 Prozent.

Wie man auch zählt, wir finden denke ich einen Konsens bei: Da könnte man durchaus mal bei; es würde sich lohnen. Das alte Mantra „Motorradfahrer WERDEN getötet“ stimmt bestenfalls bei innerorts-Daten. Etwa 60 Prozent aller tödlichen Alleinunfälle außerorts ereignen sich bei der Kurvenfahrt, wegen der die meisten Menschen Motorrad fahren.

Mehrzahl bei geringer Schräglage

Die Polizei schreibt als Unfallursache meistens „unangepasste Geschwindigkeit“ ins Formular, denn das stimmt immer: Die Geschwindigkeit war dem Fahrkönnen in dieser Situation nicht angepasst. Sonst wäre ja nichts passiert. Der Satz klingt so, als würden wir alle rasen wie die Bekloppten. Wenn sich Unfallanalysten jedoch die Daten später genauer anschauen, ergibt sich ein anderes, trauriges Bild: 45 Prozent der Unfälle ereigneten sich bei geringfügigen Schräglagen von unter 20°, obwohl Fahrbahn, Reifen, Wetter und Kradgeometrie meist über 40° hergaben.

Um das den nur-Auto-Fahrern zu vermitteln: Stellen Sie sich Unfälle vor, bei denen jemand mit geringer Kurvengeschwindigkeit bei kaum eingeschlagener Lenkung in den Gegenverkehr rasselt. Ein leicht verkleinerter Kurvenradius hätte den Unfall verhindert. Wie passiert das? Naja, bei etwa 20° liegt die natürliche, angeborene Schräglagengrenze des Menschen, aus den Zeiten „barfuß durch die Wiese“. Mehr (vor allem für Notfall-Automatismen) erreicht der Mensch nur durch Training. Und an dem fehlt es.

MOARR!

Motorradfahrer lieben Schräglage und Beschleunigung. Höchstgeschwindigkeit interessiert nur Wenige. Daher das absurd scheinende Phänomen, dass BMW zu jeder Generation mehr Hubraum nachlegt, damit der meistgenutzte Bereich bis 30 Prozent Drosselklappenöffnung mehr knallt. Motorradfahrer haben aber nicht mehr Zeit als andere Menschen, und deshalb fahren sie natürlich lieber schön, statt an Unzulänglichkeiten zu üben, die man sich problemlos schönreden kann. Kauf ich mir halt eine Traktionskontrolle / einen besseren Reifen / mehr Hubraum. Das hält auch den Neuverkauf am Leben: immer neue Fahrassistenten finden ihre Kundschaft.