E-Motorrad Harley-Davidson Livewire im Test: Offene Phase

Elektro-Roadster machen irre Spaß. Wir probierten aus, wie Harleys Livewire mit CCS-Stecker durch einen Sonntag tourt.

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Schönes, interessantes Motorrad zum Preis von drei schönen, interessanten Motorrädern: Harleys Livewire

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Bei elektrischen Motorrädern war nie das Thema, ob die Spaß machen, beziehungsweise: Es war nie ein Thema für Leute, die sie ausprobiert haben – blind gemeckert haben natürlich viele. Der einfach verfügbare Boost macht Laune. Wie beim Auto vereinfacht sich die Bedienung des Antriebsstrangs durch den Wegfall von Kupplung und Schaltung enorm. Das große Thema war jedoch immer: Wie viel Spaß kriege ich für wie viel Geld? Und darin liegt eine große Crux.

Das Fazit vorab: Über 32.000 Euro Anschaffungskosten stehen einem deutlich eingeschränkten Einsatzbereich gegenüber. Deshalb kann dieses Motorrad nur eine kleine Käuferschaft finden. Doch stellen wir uns einmal vor, Geld spiele keine Rolle oder Harley senke den Preis um 15.000 Euro, was beides wahrscheinlich frühestens am Tag des Jüngsten Gerichts passieren wird. Wie weit fahre ich dann ganz entspannt mit Harleys CCS-Schnelllader, der die 13,6 kWh netto der Batterie mit bis über 20 kW lädt?

Gleich vorab: Wir kennen alle diese Artikel, bei denen der Schreiber befreit von jeder Ahnung ins Blaue fuhr, dann viel zu spät einen Langsamlader aufsuchte, der dann (große Überraschung) langsam lud. Wenn Sie vorhaben, einen E-Antrieb zu kaufen (übrigens auch beim Auto), empfehle ich Ihnen dringend, sich kurz mit den Basics des Ladens vertraut zu machen. Bei der Livewire sehen diese auf dem Papier gut aus und in der Praxis durchwachsen.

Harleys Livewire

(Bild: Clemens Gleich)

Der Unbedarfte findet unter der Sitzbank ein Fach, in dem der Ladeziegel mit Schukostecker liegt. Es ist schön, das Harley an ein Staufach denkt, aber der einzige sinnvolle Einsatz der Ladeziegel-Mitnahme liegt darin, irgendwo zu übernachten, wo es nur Schuko-Stecker als Destination Charging gibt. Der Ziegel lädt meistens mit mageren 6 Ampere, also knapp 1,4 kW brutto. Maximal lässt er 8 Ampere durch (für also 1,8 kW), das aber nur unter optimalen Bedingungen, die offenbar für meinem Test nicht vorlagen.

Harley-Davison Livewire: Details (18 Bilder)

Wird sich wohl auch bei Motorrädern durchsetzen müssen: Der CCS-Stecker gehört mit dickem Plus auf die Habenseite dieser Harley.

(Bild: Clemens Gleich)

Von dieser mageren Leistung geht ein nicht unerheblicher Teil noch für Ladeverluste und die Umwälzpumpe des Kühlmittels drauf, die das Kraftrad gluckern lässt wie eine alte elektrische Beistellheizung. Das, was der Ziegel in einer Stunde lädt, strömt über eine CCS-Station in unter fünf Minuten rein. Dass er am Motorrad so prominent platziert wurde, ist eine perfide Falle für Unwissende. Man kann ihn nicht sinnvoll zum Nachladen für eine Tour benutzen, sondern nur über eine (lange!) Nacht. Schlimmer noch: Die 1,8 oder eher 1,4 kW, das ist die maximale AC-Ladeleistung des Fahrzeugs. Mehr geht also selbst an der AC-Ladestation nicht.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Livewire einen CCS-Stecker hat. Nun gibt es auch mit Elektroautos typische Kombinationen, die gern spinnen. Die Livewire arbeitet jedoch irgendwie gar nicht mit ausgerechnet vielen neueren CCS-Ladestationen, die gerade vermehrt ausgerollt werden, was die Option CCS nachhaltig verdirbt. Ich könnte jetzt Harleys Ausflüchte anführen, möchte das aber nicht, denn die Konkurrenz in Italien bei Energica kriegt es hin – mit einem Bruchteil der Manpower.

Alter 50-kW-Lader in Stuttgart am Gaskessel. Daumenregel: Wenn die alten Aufkleber abblättern, funktioniert es meistens mit der neuen Harley.

(Bild: Clemens Gleich)

Hier sollten Interessenten noch warten, bis Harley sich dazu durchringt, die Software des Ladesystems fertigzuschreiben. Ich habe mir für meinen Versuch also bewusst die alten 50-kW-Stationen gesucht, an denen schon die Aufkleber abblättern. Mit denen spricht die Harley. Das passt sowieso, denn die maximale Ladeleistung bei 0 Prozent SoC liegt bei 24 kW, die übliche Ladeleistung zwischen 15 und 20 kW.

Und wie schade diese Situation ist! Denn diese Harley ist die beste, die ich je gefahren bin. Das liegt natürlich hauptsächlich daran, dass ich Cruiser langweilig finde und die Livewire zum Glück keiner ist, sondern in der Klasse Naked/Roadster antritt. Mit 245 kg gehört sie schon zu den Eisenschweinen, fährt aber deutlich neutraler als die kopflastigen, sackschweren Energicas und (steinigt mich ruhig) als die störrisch einlenkende Zero SR/S. Egal ob hängen, legen oder drücken: Die Livewire zieht neutral ihre Bögen.

Viel vom guten Fahrgefühl hängt an der Ergonomie. Harley setzt dich weit nach hinten und spannt dich über den CCS-Stecker zu einem tiefen Lenker. So saß man früher auf der Ducati Monster, so sitzt man heute auf der Livewire sehr gut: optimal auf kräftige Lenkimpulse vorbereitet. Nichts passt besser auf ein Eisenschwein. Die Livewire ist für mich nicht nur die beste Harley (ein größtenteils irrelevanter Titel), sondern auch der beste Elektro-Roadster. Steinigt mich gern noch einmal. Ich bleibe dabei, und das trotz der vielen Harley-Eigenheiten, denen ich das folgende Kapitel widmen muss.

Ich fahre über Kopfsteinplaster. Es scheppert plastiklich, das meiste davon aus dem Ladeziegelfach, wie ich später eruiere. Ich fahre eine Buckelpiste. Die Harley hebt ab. Ich diagnostiziere geringe Federwege. Tolle Ergonomie, Harley, etwas versaut durch Cruiser-Federwege. Ich halte an der Ampel. Das Motorrad vibriert, nein, warte: pulsiert mit etwa 50 bpm (Bulse pro Minute). Mit der Bremsanlage probiert: Die Pulse stammen aus dem Antrieb.

Daheim nachgelesen: Harley will dir so zeigen, dass der Antrieb bereit ist und führt das als Sicherheitsfeature an. So kann nur denken, wer aus der Cruisertraktorenfertigung einen Schaden davontrug. Ob ein E-Antrieb an ist, verrät mir jederzeit ein sanfter Dreh am rechten Griff, und zwar zuverlässiger als beim Hubkolbenmotor, den ich ja an der Ampel noch per Kupplung abwürgen kann. Die Pulse nerven etwas. Man kann sie leider nicht abschalten. Der Kunde wird sich dran gewöhnen (müssen).

Eigenwilliges Motorrad an eigenwilliger Location (ex: Autonomes Kulturzentrum Würzburg, AKW, heute weniger autonom). Man kann mit der Livewire touren, wenn man weiß, was man tut.

(Bild: Clemens Gleich)

Typisch für die Harley aber auch: Du hast sofort und immer Rekuperation, selbst direkt nach dem Nachladen auf 100 Prozent. Die Livewire rekuperiert dann in ihre Akkuhub-Reserven. So muss Harley schon einmal keinem Käufer erklären, warum die Motorbremse manchmal nicht funktioniert. Auch die Boost-Leistung bleibt recht konstant über die SoC-Anzeige. Ganz voll beschleunigt die Harley also weniger beeindruckend als die Zero. So etwa ab der Hälfte des Akkustands ändert sich das aber.