Indiens verordnete Blackouts

Die Regierung des Subkontinents nutzt regionale Internetsperren, um die Verbreitung unliebsamer Nachrichten zu stoppen. Kaschmir leidet unter der Taktik sehr.

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(Bild: Photo by Annie Spratt on Unsplash)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Sonia Faleiro

Wie immer kam der Frühling mit schmelzendem Schnee und blühenden Bäumen ins Kaschmirtal. Dieses Jahr brachte er jedoch noch etwas Neues. Am 18. März wurde in Srinagar, der größten Stadt in der Himalaja-Region Kaschmir, der Erste positiv auf Covid-19 getestet. Der Bürgermeister forderte alle auf, zu Hause zu bleiben. Doch die Botschaft fand kaum Verbreitung, denn die indische Regie-rung hatte im August 2019 in Kaschmir eine Kommunikationssperre verhängt, um politische Unruhen in der Region zu ersticken. Es gab bis zum Januar 2020 kein mobiles Internet, kein Breitband, kein Festnetz und kein Kabelfernsehen – der längste Internet-Blackout, den es in der demokratischen Welt je gegeben hat.

„Wir wussten nichts über das Virus“, sagt Omar Salim Akhtar, Urologe an der Medizinischen Hochschule in Srinagar. „Sogar das Gesundheitspersonal war hilflos. Wir mussten Menschen, die außerhalb Kaschmirs unterwegs waren, bitten, die medizinischen Richtlinien herunterzuladen und uns Ausdrucke mitzubringen.“ Am Tag nach dem ersten diagnostizierten Coronafall im Kaschmirtal forderte Amnesty International die Regierung auf, die Internetverbindungen vollständig freizugeben. „Das Recht auf Gesundheit“, so hieß es in einer Erklärung, „bedeutet auch ein Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung und Zugang zu gesundheitsbezogenen Informationen“. Die Regierung überhörte den Appell. Erst im Januar stellte sie die Internetanbindung in Teilen wieder her, verbot aber die Nutzung sozialer Medien. Noch heute (während dieser Artikel entsteht) sind die Verbindungsgeschwindigkeiten stark gedrosselt.

Die indische Regierung rechtfertigt ihren Eingriff in die Kommunikationsfreiheit mit der politischen Lage in Kaschmir. Die Internetsperren und Drosselungen der Geschwindigkeiten seien notwendig, um den Frieden in der Region zu erhalten. Kaschmir liegt an der Grenze zwischen Indien und Pakistan. Dort kommt es regelmäßig zu Gewaltausbrüchen. Manche Kaschmiris, die eine Unabhängigkeitsbewegung unterstützen, nutzen soziale Medien, um sich zu organisieren. Die Regierung in Delhi setzt darauf, dass die Unabhängigkeitsbestrebungen ohne diese Kommunikationsmöglichkeiten zum Erliegen kommen werden – die Bewegung gab es allerdings schon Jahrzehnte bevor soziale Medien aufkamen.

Und selbst wenn die Annahme der Regierung zuträfe, bringen die Schließungen auch das normale Leben zum Stillstand. Nachdem die Region durch den Internet-Blackout im August wirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe erlitten hatte, war es für die Einheimischen schwer, das Vorgehen des Staates als etwas anderes als eine kollektive Bestrafung zu sehen.

Allerdings schaltet die Regierung auch in anderen Teilen des Landes regelmäßig das Internet ab. Nutzer meldeten in diesem Jahr bereits 134 Internet-Blackouts in mehr als einem halben Dutzend indischer Bundesstaaten, 2019 waren es 106 in mehr als zehn Bundesstaaten. Hunderte Millionen Menschen waren betroffen. Indien, eine Demokratie, hält damit den weltweiten Abschaltungs-Rekord – vor China, Iran und Venezuela.

Selbst die Landeshauptstadt Delhi hat es getroffen: Am 19. Dezember 2019 wurde Kishi Arora um 3.50 Uhr morgens von einer Textnachricht ihres Mobilfunkanbieters geweckt. Die Regierung sei dabei, den Internetzugang in ihrer Nachbarschaft zu sperren. Arora hatte die vielen Abschaltungen in Kaschmir mitverfolgt, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass sie in Delhi in eine ähnliche Situation geraten könnte. Die Konditorin hat ihr Geschäft online aufgebaut: Sie hat 160000 Follower auf Twitter, 17000 auf Facebook und 24000 auf Instagram. Ihr Team nimmt Bestellungen häufig über soziale Medien entgegen, stellt die gewünschten Backwaren her und liefert sie an Kunden in der ganzen Stadt. Kein Internet – kein Geschäft.

TR 11/2020

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 11/2020 der Technology Review. Das Heft ist ab 8.10.2020 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Grund für die Schließung waren Demonstrationen gegen die Verabschiedung eines umstrittenen neuen Einwanderungsgesetzes, des sogenannten Citizenship Amendment Act (CAA) von 2019. Die Lage in der Hauptstadt war brenzlig geworden. Das CAA sollte verfolgten Minderheiten aus Bangladesch, Pakistan und Afghanistan schneller zur indischen Staatsbürgerschaft verhelfen – Muslime waren jedoch von der Beschleunigung ausgenommen, sie mussten weiterhin den beschwerlichen üblichen Weg gehen. Darüber hinaus hatte die Regierung angekündigt, im ganzen Land Einwanderungskontrollen vorzunehmen, selbst in Landesteilen, die bisher wenig bis gar nicht mit illegaler Einwanderung konfrontiert waren. Wer seine indische Staatsbürgerschaft nicht nachweisen konnte, oder dass er für eine schnelle Einbürgerung infrage kam, sollte in Massenlagern interniert werden. In einem Land, in dem überhaupt nur 62 Prozent der indischen Kinder unter fünf Jahren eine Geburtsurkunde haben, liefen Millionen Gefahr, in Lagern zu landen.

Als die Proteste gegen das Einwanderungsgesetz anschwollen, griff die Regierung zu ihrer gewohnten Taktik: das Internet runterfahren. Es gab Sperren im größten Bundesstaat Indiens, Uttar Pradesh, im Heimatstaat von Premierminister Narendra Modi, Gujarat, und sogar im indischen Silicon Valley Bengaluru, der Hauptstadt Karnatakas. Nach Angaben des Software Freedom Law Center (SFLC), einer in Delhi ansässigen Organisation für digitale Rechte, gibt es zwei offizielle Erklärungen für eine Abschaltung: öffentliche Sicherheit und öffentlicher Notstand. Die Regierung behauptet entweder, dass Fehlinformationen, die über soziale Medien und WhatsApp kursieren, wahrscheinlich Gewalt verursachen werden, oder dass eine bestehende Gewaltlage nur durch eine Kommunikationssperre unter Kontrolle gebracht werden kann.

Gesetzesgrundlage für die digitale Finsternis ist der noch von den Briten stammende „Indian Telegraph Act“ von 1885. Er gibt den Regierungen des Bundes und der Bundesstaaten das Recht, „die Übertragung von telegrafischen Nachrichten oder Klassen von Nachrichten während eines öffentlichen Notfalls oder im Interesse der öffentlichen Sicherheit zu verhindern“. Die Briten schufen die Regelung als Instrument, um Aufstände während der Kolonialzeit zu unterbinden. Später nutzten es die indischen Regierungen, um bestimmte Bürger abzuhören, etwa Oppositionspolitiker und Journalisten. Seit 2017 erlaubt das Gesetz zusätzlich „die vorübergehende Aussetzung von Telekommunikationsdiensten“.

Anfangs, als die Schließungen häufiger wurden, war es tatsächlich manchmal Ziel der Regierung, Gewalt einzudämmen. Im Juni 2018 beispielsweise wurden im nordöstlichen Bundesstaat Assam zwei Touristen ermordet, nachdem sich über WhatsApp Gerüchte von herumstreunenden Kindesentführern verbreitet hatten. Als am nächsten Tag zwei weitere Menschen geschlagen wurden, offenbar aufgrund desselben Verdachts, schaltete die Regierung das Internet ab. Bis Ende 2019 wurden ähnliche Gerüchte mit mindestens 70 gewalttätigen Zwischenfällen in Verbindung gebracht, so die Analyse der Datenjournalismus-Webseite IndiaSpend.

Das Beispiel verdeutlicht ein generelles Problem: Gefälschte Nachrichten sind in Indien eine regelrechte Epidemie. Ihre Verbreitung wird durch einen Preiskampf zwischen den Telefonnetzbetreibern im Jahr 2016 geschürt. Damals sanken die Kosten für mobile Datenübertragung so drastisch, dass Hunderte Millionen Menschen sich plötzlich einen Online-Zugang leisten konnten. Das Internet, zuvor eine Domäne der Gebildeten und Wohlhabenden, war nun überall: Gemüseverkäufer streamten beim Sortieren von Tomaten und Zwiebeln Bollywood-Filme, und Rikscha-Fahrer scrollten durch YouTube-Videos, während sie auf ihren nächsten Kunden warteten. Heute ist der indische Mobilfunk der billigste der Welt, der durchschnittliche Social-Media-Nutzer verbringt jede Woche 17 Stunden auf den Plattformen, mehr als die Menschen in China.

Die dramatische Expansion offenbarte den weitverbreiteten Mangel an Informationskompetenz. Obwohl WhatsApp Maßnahmen ergriffen hat, um die Verbreitung gefälschter Nachrichten einzudämmen, geht die Regierung nach wie vor mit Abschaltungen dagegen vor, anstatt sich um Aufklärung oder Internetkompetenz der Bevölkerung zu bemühen. Und wie die Schließungen in Delhi und anderswo zeigen, wenden die Behörden diese Strategie inzwischen nicht mehr nur an, um Gewalt zu verhindern, sondern auch, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Wirksame Rechtsmittel dagegen gibt es nicht: Das Telegrafengesetz begrenzt die Dauer einer Sperre nicht, und das offi-zielle Gremium, das solche Aktionen überprüft, ist mit regierungstreuen Bürokraten besetzt.

Berhan Taye, leitender Politikanalyst bei der gemeinnützigen Organisation für digitale Rechte Access Now, sieht „einen direkten Zusammenhang zwischen Abschaltungen und Menschenrechtsverletzungen“. In Kaschmir lässt sich bis heute nicht genau feststellen, wie viele Menschen während des monatelangen Internet-Blackouts inhaftiert waren. Allein nach Angaben der Regierung gab es 5116 „präventive Festnahmen“. In Uttar Pradesh verhaftete die Polizei im Januar an einem einzigen Protesttag mehr als 100 Menschen und schlug einige in der Öffentlichkeit brutal zusammen. Ohne das Internet war es jedoch schwierig, diese Nachricht zu verbreiten.

Covid-19 hat den Takt der Abschaltungen 2020 zwar verlangsamt, aber immer noch spürt Omar Salim Akhtar in Srinagar die Folgen: Am 19. Mai, etwa zwei Monate nach Ausbruch der Pandemie, verließ der Arzt den Operationssaal und griff nach seinem Mobiltelefon – um dann festzustellen, dass er seine E-Mails nicht laden konnte. Er begriff sofort, dass in der Stadt erneut Kommunikationssperre herrschte. Normalerweise telefonierte er herum, um zu fragen, ob jemand wisse, was vor sich ging. Dieses Mal jedoch war nicht einmal das möglich. Wie sich später herausstellte, hatten Sicherheitskräfte zwei mutmaßliche Kämpfer in der Innenstadt von Srinagar erschossen, und die Regierung hatte alle Verbindungen abgeschaltet, um zu verhindern, dass die Nachricht zirkulierte und sich Demonstranten versammeln konnten.

Seit Beginn der Pandemie hatte Akhtar sich eingeschränkt gefühlt. Um über die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Laufenden zu bleiben, war er fast vollständig auf andere angewiesen. Jetzt war selbst sein Telefon nutzlos. Die ganze Welt befand sich mitten in einer tödlichen Krise – und Kaschmir, so schien es Akhtar, abgeschnitten von allen Informationsquellen.

(bsc)