Bundespräsident: Demokratie als "Kollateralschaden" von Facebook & Co.

"Soziale Medien prämieren viel zu oft die schnelle Lüge", warnt Frank-Walter Steinmeier. Die Aufmerksamkeitsmaschinen seien eine Gefahr für die Volksherrschaft.

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Steinmeier startet internationales Forschungsprojekt

(Bild: dpa, Wolfgang Kumm/dpa)

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert eine schärfere Regulierung sozialer Netzwerke. "Die böswillige Mär von der gestohlenen Wahl, die sich in Windeseile über die sozialen Medien verbreitete", habe "den Angriff eines bewaffneten Mobs auf das amerikanische Kapitol entfesselt", erklärte der SPD-Politiker am Montag auf dem Forum "Demokratie und digitale Öffentlichkeit" im Schloss Bellevue. Hunderttausende seien von einem verhängnisvollen Verschwörungsmythos angesteckt worden.

"Soziale Medien verstärken das Beste und das Schlimmste in unseren Gesellschaften", verwies Steinmeier auch auf "die digital vernetzten Demonstrationen für die Demokratie in Russland und Belarus". Kaum eine Technologie berge zunächst mehr Chancen, "pluralistische öffentliche Räume zu schaffen, allen frei zugänglich, grenz-, milieu- und größtenteils generationenüberschreitend". Online-Plattformen seien in politischer Hinsicht so "Fluch und Segen". Insgesamt trieben ihn momentan aber die Sorgen über die Eigenheiten sozialer Netzwerk stärker um.

"Einen rein gewinnmaximierenden Algorithmus schert weder, was wahr oder falsch ist noch mit welchem Ziel ein bestimmter Inhalt erstellt wurde", betonte das Staatsoberhaupt. "Aber er kann ziemlich gut vorhersagen, was jeden individuell an den Bildschirm fesselt. So werden Geschwindigkeit und Zuspitzung belohnt, bleiben Einseitigkeit und Unwahrheit unwidersprochen, Demagogie und Propaganda zu oft ungerügt." Dabei gehe es auch darum, während der Online-Zeit "möglichst viel Umsatz mit maßgeschneiderter Werbung" zu machen.

Die sozialen Medien prämieren laut dem 65-Jährigen "viel zu oft die schnelle Lüge – auf Kosten von Vernunft und Wahrheit". Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit werde zur Gefahr für die Demokratie. Deren Feinde nutzten diese Schwachstellen am besten: "Mit Lug und Trug befeuern sie die Aufmerksamkeitsmaschinen der sozialen Medien gekonnt zum eigenen Vorteil." Und am Ende besetzten Aufständische den US-Kongress.

Steinmeier diagnostizierte "demokratiepolitische Versäumnisse" bei den marktbeherrschenden Plattformen. "Diese Konstruktionsfehler schaden dem öffentlichen Raum – und die Demokratie wird zum Kollateralschaden des Geschäftsmodells." Für den Sozialdemokraten mehren sich aber die Zeichen, "dass Facebook und Co. die Geister nicht mehr loswerden, die sie riefen". "Wir sollten den Ruf nach Regeln jedenfalls beim Wort nehmen. Amerika und Europa haben in diesen Monaten die historische Chance, gemeinsam freiheitliche und demokratische Antworten zu finden."

Für Steinmeier sind dabei noch Fragen offen: "Wie viel kann über private Hausregeln funktionieren, wie viel demokratisch legitimierte Vorgaben, Kontrolle und Aufsicht braucht es von außen?", gab er mit in die Runde. "Wie können wir den Graubereich des 'harmful content' in den Griff bekommen?" Brauche es – auch mit Blick auf die Datenhoheit – "mehr Beschränkungen, neue Modelle und andere Formen der Finanzierung, zum Beispiel durch Bezahldienste"? Schon 2019 hatte er auf der re:publica gemahnt: "Wir müssen uns um die politische Debattenkultur im Netz gemeinsam kümmern."

Die Demokratie sollte jetzt dringend aufholen gegenüber der Technologie, verlangte Margrethe Vestager, die für Digitales zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission. Sonst sei die Gesellschaft zu polarisiert, um noch ein gemeinsames Weltverständnis zu entwickeln: "Wir müssen die 'dunklen Seiten' unter Kontrolle bringen." Mit dem geplanten Digital Services und Market Act mache die Kommission hier Druck. Am besten wäre ein "globaler Standard", um Rivalitäten zwischen Staaten zu verhindern. Zudem müssten die Tech-Konzerne endlich angemessene Steuern zahlen.

Auch in den USA habe sich der Wind gedreht, aber er rechne nicht damit, dass die neue Regierung in Washington das Problem schnell lösen werde, sagte Ben Scott vom Thinktank Luminate. Selbst wenn der politische Wille dazu da sei, wirke der US-Kongress nach vier Jahren Donald Trump noch sehr zerstritten. Er hoffe daher auf Europa. In den USA sei es lange eine Art Religion gewesen, das Internet nicht zu regulieren. Die "Soft Power" der Vereinigten Staaten beruhe auch auf der Offenheit des Netzes. Scott hatte 2018 einen neuen "Gesellschaftsvertrag für die Technologie ins Spiel gebracht.

Die Geschäftsmodelle der "Big Players" im Internet, Daten und die Kontrolle darüber zu verkaufen, hätten sich vergleichsweise langsam entwickelt, gab der Münchner Soziologe Armin Nassehi zu bedenken. Facebook-Manager hätten sich ihm gegenüber selbst überrascht gezeigt von den Auswirkungen des exponentiellen Wachstums etwa auch bei viral gehenden Ideen. Es gebe noch keine Standards für die Regulierung dieser neuen öffentlichen Sphäre, sodass politische Innovation gefragt sei.

(vbr)