Open Source im Auto: Automotive Grade Linux als Google-Alternative

Es hat lange gedauert, doch mittlerweile gibt es Open-Source-Linux-Systeme in Serienautos. Das Projekt "Automotive Grade Linux" hat jedoch starke Konkurrenz.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 149 Kommentare lesen

Einführung von Automotive Grade Linux im Toyota Camry (USA)

(Bild: Toyota)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die Autoindustrie hat sich lange gegen Open Source gewehrt, wie sie sich gegen viele bewährte Praktiken der Software-Industrie wehrte. Doch mit den Jahren, mit immer mehr Mitarbeitern, die eine andere Kultur in die Autokonzerne brachten, hat sich sehr viel sehr stark gewandelt. Und so sahen wir 2018 das erste Auto, das Automotive Grade Linux (AGL) im Infotainment-System einsetzte: den Toyota Camry in den USA. 2019 folgte der Mazda 3. Mittlerweile gibt es AGL-Systeme auch im Toyota RAV4 und im Mazda CX-30. Subaru verkauft AGL-Infotainment seit den 2020er Modellen des Outback und des Legacy.

Nun sind das keine Autos, die Kunden wegen ihrer Infotainment-Systeme kaufen. Überhaupt merkt der Kunde kaum etwas davon, welches Betriebssystem hinter der Radio-Software arbeitet. Doch aus Herstellersicht steckt in einem Auto-Linux erhebliches Potenzial. Vielleicht hilft ein Vergleich mit Routern: Für den Verbraucher ist es recht uninteressant, dass in seinem Gerät ein Linux läuft. Doch für die Plasterouter-Hersteller war GNU/Linux der Baustein, der solche Geräte in ihrer heutigen Vielfalt überhaupt erst ermöglichte.

Automotive Grade Linux sitzt als Konsortium innerhalb der "Linux Foundation", dem sich Firmen aus der Autoindustrie als zahlende Mitglieder anschließen. Bisher geben japanische Konzerne wie Toyota, Mazda, Renesas oder Denso den Ton an im AGL-Konsortium, obwohl ihm auch westliche Autohersteller angehören, darunter Volkswagen, Bosch, Daimler und Ford. Viele Mitglieder haben keine konkreten Produkte mit AGL in der Pipeline, wollen aber dennoch die Richtung mitgestalten, in die das Projekt läuft.

Die Mitgliedschaft kostet Geld, doch der Code ist jedem zugänglich. Er steht als reiner Lesezugriff auf dem AGL-Git-Server. Interessierte Bastler können sich zum Beispiel einen Build für den Raspberry Pi ziehen und damit Mittelkonsole spielen. Für Autohersteller mit großen Stückzahlen wichtiger: Es gibt keine Lizenzgebühren pro verkaufter Einheit, wie sie anderswo üblich sind (etwa bei QNX). Wenn die Software-Ingenieure es schaffen, die Infotainment-Entwicklungskosten gering zu halten, macht dieser Umstand also im Stückzahlenbereich von Volkswagen oder Toyota schnell riesige Geldsummen aus. Über die finanziellen Vorteile hinaus soll AGL die weniger offensichtlichen Vorteile von Open Source in den Autobereich bringen:

  • Unabhängigkeit von Lieferanten
  • Einfache Anpassung durch Zugriff auf den Quellcode
  • Bug Fixes stehen allen zur Verfügung.
  • Viel Arbeit muss konsortiumweit nur einmal gemacht werden.
  • Code muss sicher gebaut werden, weil er offen ist (keine Verschleierung). Oder anders herum formuliert: Offener Quellcode macht Schlampereien schamhaft.
  • Vereinfachung von Software Audits (wir erinnern uns an Toyotas Spaghetticode-Debakel)
  • Und schließlich: Open Source lockt gute Entwickler an.

Eine offene Lösung hat den weiteren Vorteil, dass sie sich schneller zum de-facto-Standard etabliert in Bereichen, in denen einzelne Hersteller keine Dominanz aufbauen können, weil die Nische so klein ist. Mercedes-Benz Vans hat zum Beispiel den nächsten logischen Schritt ihres "Parametrierbaren Sondermoduls" (PSM) angedacht, das Fahrzeugbus mit An- oder Aufbauten verbindet: In der "adVANce"-Initiative testete Daimler einen AGL-Rechner mit Zugriff auf den CAN-Bus, der zusätzliche Sensoren auswertet, geladene Lieferdrohnen steuert, nach frei programmierbarer Software-Logik jegliches IoT-Zeug bedient. Die Möglichkeiten für Automatisierung, Fernsteuerung und Datenanalyse sind riesig, und dafür entwickelte Systeme wären in weiteren Nutzfahrzeugen mit so einem AGL-Gateway-Rechner wiederverwendbar.

AGL ist zurzeit recht aktiv: Die Community brachte bisher jedes Jahr zwei Betriebssystem-Releases heraus. Das bedeutet für den Autofahrer wenig. Toyota rollt keine Betriebssystem-Updates in alte Camrys aus. Herstellern zeigt das jedoch, dass die Entwicklung zügig fortschreitet. Jüngst integrierte AGL den Zugriff auf Amazons Alexa und auf Amazons Cloud-Angebot AWS. Zusätzlich ist ein eigenes Sprachsteuerungs-Interface in Arbeit. Außer auf der Mittelkonsole soll Linux auch auf der Tachoeinheit laufen.

Damit das ohne Echtzeitfähigkeiten geht, wird es dort virtualisiert und von außerhalb der Virtuellen Maschine, in der es läuft, streng überwacht. Die Arbeiten in diesem Bereich betreffen hauptsächlich die Performance, damit Linux auf der typischerweise schmaleren Hardware des Tachos flüssig läuft. Es gibt jedoch nicht alle Software im Repository, die ein Auto braucht. Es fehlt zum Beispiel Navigations-Software, die anderswo herkommen muss. Und es fehlt ein Play Store.

Mazda verkauft AGL-Infotainment seit 2019. Hier das System im elektrischen MX-30.

(Bild: Mazda)

Trotz aller Fortschritte und Vorzüge ist schwer vorherzusagen, wie groß die Bedeutung von AGL im Autobereich werden wird. Die große Konkurrenz kommt aus Kalifornien: Googles Infotainment-Betriebssystem Android Automotive OS gibt es seit Kurzem in Serienautos bei Geely/Volvo/Polestar. Obwohl einige Dinge noch ein großes Fragezeichen tragen (warum kann das weniger als Android Auto per eingehängtem Smartphone?), zeigt das System doch großes Potenzial.

Vor allem das App-Ökosystem ist konkurrenzlos: Freie Entwickler können Mobilitäts-relevante Smartphone-Software schreiben und sehr einfach UX-Varianten für Android Auto und Android Automotive OS anbieten. Das AGL-Konsortium dagegen bietet keinen Hersteller-übergreifenden App-Shop an. Deshalb sagte selbst der sehr energische, lautstarke AGL-CEO Dan Cauchy im Interview: "Es gibt nur zwei Lösungen: AGL und Android." Um die Google-Frage kommt die Autoindustrie in den nächsten Jahren nicht herum.

Volkswagen will sich als Alternative zu Google positionieren mit eigenem App-Ökosystem. Andere Hersteller sollen sich diesem nach Wolfsburger Vorstellungen anschließen. Um diese ambitionierten Pläne wurde es jedoch zuletzt genauso still wie um die Pläne, Volkswagen-eigene Software an andere Hersteller zu verkaufen. Stattdessen beschäftigen Flutwellen von Bugs in entscheidenden Modellen wie Golf, ID.3 (Test) und ID.4 Volkswagens Ingenieure. Das Grundproblem stammt dabei nicht aus der Software-Abteilung, sondern aus Herbert Diess' Fehlorganisation. Wann Volkswagen wirklich im Markt benutzbarer Software mitspielen kann, ist offen. Vor 2025? Unwahrscheinlich. Nach 2025? Sitzt Google fest im Auto.

Obwohl die Software-Plattform "VW.OS" heißt, schreibt Volkswagen kein eigenes Betriebssystem. Stattdessen will man verschiedene Betriebssysteme und Middleware mit eigenem Code-Kitt unter einen Hut bringen. Unter den zu verwendenden Betriebssystemen bereits zur Vorstellung explizit genannt: Android und Linux. In Projekten wie VW.OS finden sich also künftig wahrscheinlich beide Systeme in friedlichem Miteinander – zusammen mit weiteren Betriebssystem-Tierchen aus dem Automotive-Zoo.

Extrapolieren wir die aktuelle Situation, wird AGL wahrscheinlich zuerst den Bereich niederpreisiger Infotainment-Systeme besetzen – das Plasterouter-BS des Autobereichs. Das mag wenig ruhmreich klingen, doch wenn wir uns einen Moment von der deutschen Premium-Perspektive mit zwei SUV pro Haushalt lösen und den Weltmarkt betrachten: Gerade der Massenmarkt einfacher Basisgeräte profitiert von Open Source und der dazugehörigen Geisteshaltung. Und je besser es funktioniert, umso interessanter wird der Einstieg für Hersteller aller Preisklassen.

(cgl)