Was war. Was wird.
Kurzweilig, ja, eine kurzweilige Wochenschau möchte Hal Faber liefern. Klappt aber nicht ganz, etwas Ernst muss auch im neuen Jahr für die IT-Welt sein.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Zu den absonderlichen Jahresendritualen der journalistischen Existenz gehört die Beschäftigung mit den dann eintrudelnden Schulbuchanzeigen durch die VG Wort. Das ist die Verwertungsgesellschaft, die an die verarmten Hal Fabers dieser Welt ein paar Groschen ausschüttet, wenn gedruckte Texte (Online soll bald folgen) irgendwo kopiert werden. An die VG Wort schreiben auch Schulbuchverlage, wenn sie Texte abdrucken. Nicht, weil es Tantiemen gibt: Schulbücher sind in Deutschland per Gesetz Open Source und abgedruckte Autoren erhalten nichts. Ja, unser Herz lebt mit der Wissensallmende! Auch wenn es manchmal blutet: "Setzen Sie sich mit dem Satz auseinander: 'Es gibt nichts, was das Internet nicht bietet'." Ja, diesen Satz habe ich (wie viele andere Autoren auch) geschrieben; nun steht er in einem Schulbuch und ich soll ihn abnicken. Und die Aufgabe dazu? "Nennen sie vier zentrale Merkmale der traditionellen Wirtschaftsweise, die über Jahrhunderte eingeübt wurde, und vergleichen Sie die Merkmale mit der neuen Art der Ökonomie. Arbeiten Sie die Gründe für den Strukturwandel heraus und bestimmen Sie, ob die Technik eine Rolle gespielt hat." Jetzt habe ich richtig Angst um meinen kleinen Satz vom Internet, das alles bietet. Ob er das aushält, was die Schüler nun machen? Vielleicht greifen sie zum Pisa-Effekt: auch die schiefste Frage erfordert eine gerade Antwort. Was natürlich nichts anderes heißt, als dass nicht der Turm von Pisa schief steht, sondern ein Bildungssystem, das methodische Textaneignung im Kaliber Strukturwandel vorschreibt. Da liegt sie vor uns, die neue Welt, in der alle Schulen am Netz sind, das Lernen lernen lebenslang droht und die Interpretation durch die Information abgelöst ist. Und dann diese Frage, mit diesem raffinierten Nebensatz. Über Jahrhunderte eingeübt. Wie wärs damit: "Finden sie in 10 Klicks heraus, was das Internet nicht bietet. Googlen verboten." Wenn alles gut geht, wird diese Frage in zwei, drei Jahren in den angemahnten interaktiven Schulbüchern für die Generation @ auftauchen.
*** Gut ist es in Indien gegangen. Dort darf der Nationaldichter Rabindranth Tagore raus aus den Schulbüchern und vom ganzen Volk angeeignet und gesungen werden. Das immer wieder verlängerte Copyright auf seine Lieder ist erloschen. Tagore gehört dem Volk, wie bei uns das Lied vom Gelben Wagen mit dem schmetternden Posthörnchen oder die Internationale. Ich will gerecht sein. Natürlich ist das Copyright nützlich. Es hilft Musikern, mit ihren Liedern ein kleines Geschäft zu machen, auch wenn sie mit dem geistigen Eigentum von Molekularstrukturen mehr Geld verdienen. Die Sache mit dem Markenschutz bleibt zu Ehren von Tagore unbesungen.
*** Im letzten Wochenrückblick im alten Jahr erwähnte ich die höchstrichterlich akzeptierten Tastaturlauscherl vom FBI. Etwaige Bedenken gegen diese Technik in Hinsicht auf die Stabilität von Linux oder gar Windows begegnet inzwischen die Firma Keyghost, die nun mit Tastaturherstellern in Europa verhandelt. Zeitgemäß lassen sich ihre Gründer mit dem Drei-Punkte-Programm von Al Qaida ablichten, das auf verschiedenen Computern gesichtet wurde.
*** Zu den weniger beachteten Meldungen dieser Woche gehörte eine Klage der ACLU gegen eine Kopplung aus Videoüberwachung und Gesichtserkennung im floridanischen Tampa. Weniger beachtet wohl darum, weil unser deutscher Personspotter die in Tampa eingesetzte, offenbar sehr fehlerhafte Technologie von Visionics angeblich sehr alt aussehen lässt. Dennoch bleiben Zweifel an der Effizienz, auch in der Fachliteratur gibt es wenig, was auf den sinnvollen Einsatz bei der Erkennung von ruchlosen Elementen hinweist. Aber man sollte sich nicht täuschen. Zweifelhafte Methoden können durch findige Kombinationen und Unterstützung mit richtigen Programmsuiten geschärft werden. Natürlich nicht in Deutschland!
*** Kaum hat ein neues Jahr angefangen, werden Prognostiker verhaltensaufällig. Da stehen die Trendforscher auf, die schwarze Wolken für Linux oder blaue für Windows XP prophezeihen, die die schwer strauchelnde Firma Apple mit Sony verschmelzen lassen oder die das junge Jahr als Jahr des drahtlosen Vernetzens feiern. Selbst sonst verständige Hacker schaffen es dann, an den Flachsinn von der Konvergenz zu glauben und von Internet-Kühlschränken zu faseln. Dabei geht es gar nicht dramatisch zu, sondern weiter wie bisher: Im Schily-Katalog werden immer neue hübsche Dinge bestellt werden können, die Telekom verteidigt ihr fleischfarbenes Magenta, auch weil die Porno-Bobos von der Private Media Group mehr als nur die deutsche Börse stürmen wollen. Immerhin ist die deutsche Telekom einer der engsten Partner dieses Erotikproduzenten. Und viele, die noch nicht begriffen haben, dass das Internet nicht frei ist, werden abgemahnt. Ja, und 2002 ist das Jahr der Geowissenschaften.
*** "Sex sells", dafür braucht es nun wirklich keine Prognostiker, die sowieso nur den Abstieg oder den Aufstieg von Linux prophezeien, jeweils aus unterschiedlichem Munde bejubelt, ganz nach Gusto und je nachdem, wie man so auf die Meister der Aufmerksamkeitsökonomie hereinfällt. Deren Mechanismen beherrschen unsere restlichen verblieben KI-Apologeten auch ganz gut (oh, gibt es vielleicht auch Sekten, die nicht nur Betriebssyteme, sondern auch Lisp oder Prolog anbeten?). Mag Rodney Brooks noch mit der überraschenden Frage "Sind wir nicht alle Maschinen?" den gespannt lauschenden Zeitgenossen erklären, warum Roboter menschenähnlicher werden müssen, ist Kollege Ray Kurzweil schon weiter, und zwar "zu Besuch in fremden Köpfen". In denen findet er dann, was er dort schon immer fand: Mensch und Maschine werden eins. Und bis es soweit ist, hat sich der kurzweilige Fortschritt so beschleunigt, dass er unser menschliches Fassungsvermögen überschreitet, zumindest "unser heutiges Fassungsvermögen". Hat er sich geirrt, der Georg Christoph Lichtenberg? Möglicherweise lag er doch falsch mit dem zweiten Teil einer seiner Anmerkungen aus den Sudelbüchern (der ich im Jahresrückblick der letzten Wochenschau frecherweise die Lichtenbergsche Autorenschaft entzog, wie ein aufmerksamer Leser anmerkte): "Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll." Dann aber wagte ich nur zu hoffen, dass der Fortschritt auch das zukünftige Fassungsvermögen überschreite: Blieben wir so doch vor KI- und anderen Prognostikern verschont. Besser aber ists, doch lieber weiter unseren Verstand zu schärfen, auf dass sein Fassungsvermögen nichts überschreite, auch wenn wir weiter mit Verschwörungs-Anhängern, KI-Propheten und Betriebssystem-Aposteln leben müssen. Denn die sind zwar feuergefährlich, aber, zumindest für Menschen mit geschärften Verstand, die aufzupassen wissen, recht kurzweilig: "Die Enthusiasten, die ich gekannt habe, haben alle den entsetzlichen Fehler gehabt, dass sie bei dem geringsten Funken, der auf sie fällt, allemal wie ein lange vorbereitetes Feuerwerk abbrennen." So schickt uns Lichtenberg in jeder Beziehung ein Fünkchen Hoffnung für das neue Jahr.
Was wird.
So langsam kristallkugelt sich die Branche in das neue Jahr. In Las Vegas startet die Consumer Electronics Show (CES); auch sie wird wie die Comdex von dem noch lebenden Bill Gates eröffnet, mit einer Lobpreisung von Windows XP für die Heimvernetzung, auch wenn diese Botschaft fast mumifiziert erscheint. Vor die Jury der internationalen Aufmerksamkeitsökonomie schmeißt sich auch Steve Jobs, der DAS DING oder einfach nur einen weiteren Apple-Rechner präsentiert.
Morgen vor 25 Jahren wurde in der damaligen Tschechoslowakei die Charta 77 gegründet. "Eingekeilt in diese Welt mussten wir es machen", schrieb Václav Havel in "Briefe an Olga" aus dem Zwangsarbeitslager Hermanice, in denen er auf den Kauf von Bee-Gees-Platten drängte -- er durfte sie jedoch nicht hören. Jetzt haben die Bee Gees ihre Orden bekommen und Havel ist ein kranker Präsident.
vor dem jahrestag seien an der hauswand männer aufgestiegen, hätten - weiße engel die mit ihren weißen flügeln schlagen - weiße bürsten ausgeschwungen
und seien davongeflogen von weiĂźem gerĂĽst [Reiner Kunze, Brief aus Prag]