EU-Kommissionsvizechefin: "Müssen Menschen gegen die Infodemie impfen"

Die Politik kann gegen Desinformation nur "mit angezogenen Handschuhen" vorgehen, meint EU-Kommissarin Věra Jourová. Anonymität enthemme, warnte Schäuble.

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(Bild: Dilok Klaisataporn/Shutterstock.com)

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Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission für Werte und Transparenz, hat den Kurs der Brüsseler Regierungsinstitution verteidigt, im Kampf gegen Desinformation im Internet auf eine Selbstregulierung von Online-Plattformen zu setzen. Dabei handle es sich um "schädliche Inhalte", die "große Einflüsse auf die Meinungsbildung" haben könnten. Angesichts der Relevanz der Redefreiheit könne die Politik dagegen aber nur "mit angezogenen Handschuhen" vorgehen.

Sie als Liberaldemokratin möge oft Aussagen der Konservativen nicht, brachte Jourová am Montag auf einem Symposium der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten zu Medien und sozialen Netzwerke im Superwahljahr ein Beispiel aus diesem sensiblen Umfeld. "Aber ich muss ihr Recht auf freie Meinungsäußerung schützen." Der aktuelle Verhaltenskodex gegen Desinformation solle daher "auf Basis der Selbstregulierung bestehen bleiben", mit einem Maßnahmenpaket aber ausgedehnt werden.

Faktenchecks würden erweitert, wobei die Prüfer für ihre Arbeit auch zu bezahlen seien, erläuterte die Tschechin Eckpunkte des Plans. Enthalte ein Beitrag falsche Informationen, müsse ein Hinweis darauf angebracht werden und ein Korrekturanspruch bestehen. Die Bürger erhielten zudem ein Recht auf Feedback zu Beschwerden. Es werde aber niemand über "die offizielle Doktrin" wachen. Am wichtigsten sei Medienkompetenz: "Wir müssen die Menschen gegen die Infodemie impfen."

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plädierte für mehr Regulierung, da auf Facebook, YouTube, Twitter & Co. eine Algorithmen-gesteuerte Auswahl Teilöffentlichkeiten fördere und die Gesellschaft polarisiere. Gigantische Datenmengen ermöglichten gezielte Desinformation, um Vertrauen zu untergraben und Wahlen zu beeinflussen. "Ganze Armeen von Trollen und Bots" versuchten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das Problem falscher Identitäten sei groß, allein Facebook habe binnen weniger Monate 4,5 Milliarden Fake Accounts entdeckt.

Die "Blase im Internet" befördert laut dem CDU-Politiker so die Logik von "Wir gegen die". Kommunalverbände warnten daher vor verwaisten Rathäusern, auch gegenüber Journalisten mehrten sich Übergriffe, da "schrille" Stimmen sich auf sozialen Netzwerken viel Aufmerksamkeit verschaffen könnten. Als ein Problem machte Schäuble dabei erneut die Anonymität im Netz aus. Sie enthemme auch ein Stück weit und führe zu "Schweinereien, Widerlichkeiten", die es so "in der realen, analogen Welt" nicht gebe. Anonymität sei so "eine Verführung auf dem falschen Weg". Schäuble hatte zuvor wiederholt gefordert, eine gesetzlich verankerte Klarnamenpflicht für Online-Portale einzuführen.

Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, plädierte für eine "Transparenz des Absenders". Damit könnte eventuell auch die Anonymität durchbrochen werden. Dieser Bereich sei aber "superempfindlich", da er auch oft schütze, wie die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa und Nordafrika gezeigt hätten. Untersagungen durch die Medienregulierer seien als Ultima Ratio möglich, "wenn die Technik dazu führt, dass ein falscher Eindruck entsteht". Dies könnte etwa auf das "tausendfache Reagieren über Fake Accounts" zutreffen. Als Schwachpunkte beim EU-Kodex machte er aus, dass nicht alle Unternehmen dabei seien, es am Datenzugang fehle und es keine Sanktionen gebe.

Jourová erteilte den Rufen nach weniger Anonymität im Netz eine Absage: Gerade erst habe sich in Belarus gezeigt, dass Proteste über verschlüsselte Apps organisiert worden seien. Die Politik müsse daher "sehr vorsichtig sein", hier etwas zu verbieten oder sonstige Maßnahmen wie etwa eine Klarnamenpflicht zu verlangen.

Ein "Geraune um die Sicherheit" der Bundestagswahl machte die Münsteraner Kommunikationswissenschaftlerin Lena Frischlich aus. Ähnlich wie in den USA werde die Legitimität des demokratischen Prozesses und etwa die Zuverlässigkeit der Briefwahl angezweifelt. Einen Vorgeschmack auf Bild- und Tonmanipulationen hätten angebliche Nacktbilder von Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gegeben. Es werde hier versucht, mit Stimmung, Angst, Furcht, Wut zu arbeiten, um die Nutzer zum Klicken zu bringen. Diesen empfahl sie, "einmal durchzuatmen" und auszuloten, wo versucht werde, von wichtigen Fragen der Zukunft wie Klimawandel und sozialer Gerechtigkeit abzulenken.

Facebook & Co. entschieden sich im Zweifelsfall "fürs eigene Geschäftsmodell", monierte Markus Beckedahl von netzpolitik.org. Ihre algorithmischen Entscheidungs- und Empfehlungssysteme bevorzugten Hass und lüden dazu ein, von unterschiedlichen Akteuren bespielt zu werden. Er warb für mehr Transparenz, einen besseren Datenzugang für Regulierer und Wissenschaftler sowie ein Verbot von politischem Microtargeting.

Twitter stelle Forschern bereits eine Datenschnittstelle zur Verfügung und veröffentliche Beiträge aus koordinierten staatlichen Aktionen in einem Archiv, betonte Nina Morschhäuser, die bei dem Betreiber für Regierungsbeziehungen hierzulande zuständig ist. Politische Eigenwerbung sei verboten, bei Bannern für soziale Belange wie Umweltschutz Microtargeting untersagt.

Marie-Teresa Weber, Regulierungsexpertin bei Facebook Deutschland, versicherte, dass der Konzern sich "mit einem riesigem Team" auf die Wahl im Herbst vorbereite. Warnlabel hälfen, die Verbreitung von Falschinformationen drastisch einzuschränken: in der ersten Corona-Welle habe sich gezeigt, dass 95 Prozent der Nutzer dann gar nicht draufklickten. Bei Anzeichen für gezielte Desinformationskampagnen gehe Facebook sehr früh gegen den Aufbau entsprechender Netzwerke vor.

(olb)