Was war. Was wird.
"This land is your land, this land is my land" -- nicht nur als Verschwörungstheoretiker oder professioneller Datenschutz-Paranoiker mag man manches Mal daran zweifeln, meint Hal Faber.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Muss man immer Erster sein? Muss man nicht. Auch ein Fünfter kann Freude machen: Beim OnlineStar 2002 erreichte www.heise.de diesen Platz in der Kategorie "News & Information", weit vor den Angeboten von Google und Tagesschau. Es macht Spaß, für eine fünftklassige Site auf die vergangene Woche zu blicken, zumal dann, wenn die Erstklassigen den OnlineStar als "Gütesiegel für deutschsprachige Internet-Seiten" lobpreisen. Nun müsste man denken, dass ein Angebot wie heise online eher in die Kategorie "Computer & Technik" gehört. Tut es auch, zusätzlich und gleich doppelt! In der Abstimmung wurde zwischen www.heise.de und www.heise.de/ct unterschieden: Heise muss fünftklassig bleiben!
*** Ein frommer, aber mindestens sechstklassiger Wunsch von Microsoft veranlasste die Suchmaschine Google in dieser Woche, sofort eine Seite aus dem Google-Cache zu entfernen, die über einen missratenen Werbetext informierte. Gleiches passierte bei dem Web Archive. Dabei würde sich Microsoft noch viel lieber wünschen, es hätte die besagte Lösch-Seite, Produkt einer miserabel konzipierten Aktion, nie gegeben. Die Fehler, die gemacht wurden, sind einfach erstaunlich für eine Firma, die das "Trustworthy Computing" propagiert. Da kupfert die PR-Beraterin Valerie Mallinson (entdeckt durch die Nutzerinformationen einer Word-Datei) eine Anzeigenserie der Konkurrenz ab und besorgt sich dafür auch noch ein Foto von der Konkurrenz und nicht vom (fast) hauseigenen Bilderdienst Corbis. Ein Fall, der Steve Ballmer ein bisschen die Freude über das profitable Lizenzmodell vergällt. Der vorerst letzte Fehler in einer langen Reihe ist die Säuberung à la mode de Büssow bei Google und dem Web Archive: "Mission beendet"? Noch lange nicht. Apropos Switcher: Apple wirbt derweil wieder mit Jimmy Carter und meidet Mac-Messen. Think different nennt man das wohl.
*** Think different, diese einfache Überlebenstechnik rettete Fritz das Überleben. Hätte er in der letzten Partie gegen Kramnik so schlapp gespielt wie zu Anfang des Turniers, so wären ihm wohl zur Strafe seine Speicher weggelöscht worden. Ihm? Wer bitte spricht denn da von einer Persönlichkeit, wo es sich nur um einen Haufen Code handelt? So abwegig ist die Sache nicht: Als Kasparov im Jahre 1997 von Deep Blue II geschlagen wurde, gab es Kommentare, die das Ende der Menschheit beschworen. Mindestens sei der Turing-Test entschieden, befand man damals. Heute sieht man es anders. Aber heute liegen ja auch mehr als 10 Jahre harter Kämpfe um den Loebner-Preis hinter uns. Wer sich freilich zu Gemüte führt, was in diesem Jahr alles passierte, bis Ella Z. gewann, wird sich fragen, ob die Computer nicht längst gewonnen haben.
*** Der bereits erwähnte Bilderdienst Corbis startete in letzter Woche in Deutschland und Österreich mit dem Slogan "Geschichte wird lebendig", offensichtlich ein Hinweis auf die prägende Kraft der Bilder. Das scheint mir doch ein Missverständnis zu sein: Geschichte wird nicht lebendig, Geschichte ist lebendig. In der letzten Woche war an dieser Stelle über die Verstrickungen von Bertelsmann im Dritten Reich zu lesen, jetzt scheint der Holtzbrinck-Konzern an der Reihe zu sein. Auch in der IT-Branche wird geforscht. Seit längerem ist Edwin Black, der ehemalige Chef des Magazins OS/2 Professional, hinter der IBM her, ihre Verstrickungen in den Holocaust aufzudecken. Passend zur deutschen erweiterten Taschenbuchausgabe seines "IBM und der Holocaust" verbreitet Black, dass das System der Tätowierungen der KZ-Insassen ein direkter Ausfluss des Hollerith-Nummern-Systems ist. Die These ist im Licht historischer Forschungen sehr umstritten. Edwin Black findet einen halben Beweis nur im IG-Farben-Komplex von Auschwitz, wo die Lochkartenmaschinen der polnischen Watson Business Machines installiert waren. Auf vertrackte Weise begibt sich Black damit auf die Pfade der Auschwitz-Leugner vom Schlage eines Zündel und Leuchter, die mit Listen der tätowierten Nummern und Buchstaben am Unterarm der KZ-Insassen von Auschwitz argumentieren, dass es in Auschwitz keine Massenmorde gegeben habe. Am Ende bleibt der Eindruck, dass für Black jede fünfstellige Zahl eine Hollerith-Zahl ist und damit die Schuld von IBM ein bisschen schwerer macht.
*** Die deutsche Geschichte beschert diesem Wochenrückblick ein Überangebot von Jubiläen. Nehmen wir nur das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten, Ärzte, Anwälte und Seelsorger, das der Hamburger Innensenator Ronald Schill abschaffen will. Mit der Bürgerschaftsdrucksache 17/1403 will sich "Richter Gnadenlos" ein Denkmal setzen und den Lauschangriff auf Journalisten ausdehnen. Auf feine Weise soll damit Artikel fünf des Grundgesetzes geschleift werden, der Presse- und Meinungsfreiheit garantiert. Was ist von solcher Freiheit zu halten, wenn die Bürger sich nicht vertraulich mit einem Journalisten unterhalten können? Das historische Vorbild hat Ronald Schill bei einer Aktion von Franz-Josef Strauß gefunden, der vor 40 Jahren den Spiegel durchsuchen und schließen ließ. Was im Oktober 1962 passierte, war Folge des ersten großflächigen Lauschangriffes auf Journalisten in der BRD, wenngleich etwas ungeschickt vorgetragen:
Den Beweis, dass wir -- und wohl alle Redaktionen im Haus -- ständig abgehört wurden, lieferten die Lauscher der ZEIT-Kunstredakteurin Petra Kipphoff. Als sie, entnervt von den Nebengeräuschen, in den Apparat bläffte: "Wenn Sie hier schon mithören, dann knacken Sie wenigstens nicht so aufdringlich!", bläffte der fremde Fernsprechteilnehmer dreist zurück: "Ich denke gar nicht daran, Ihrer unverschämten Aufforderung nachzukommen!"
Heute knackt es längst nicht mehr im Telefon, und auch die E-Mail ist nicht verräterisch umbrochen, wenn das Kommando Guck und Horch seine Aktionen durchzieht. Heute leben wir beschützt von einer rot-grünen Koalition, die die Standards für die nächsten 10 Jahre setzen will. Beschützt von Politikern, die Journalisten nur noch als Stichwortgeber in Talkshows kennen. Einwände der Art, dass Schill nur Hamburg regiert, zählen nicht: Was die Gesetzesänderungen in anderen Bundesländern betrifft, so können sie durchaus mithalten. Jeder sägt ein bisschen. Nehmen wir nur die Rasterfahndung, die bei der Suche nach Anhängern von Bin Laden ungeahnten Aufschwung erhält. Erfunden wurde sie, wie bereits hier angeführt, vom bundesdeutschen BKA-Chef Horst Herold, lange vor den Amerikanern. Mit der computerbetriebenen Fahndungtechnik erlitt die deutsche Kriminalistik auch ihre schwerste Niederlage, als es nicht gelang, das Versteck von Hanns Martin Schleyer zu ermitteln. Bei der Planung der Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten, die von der RAF als Wannsee-Konferenz tituliert wurde, rechnete man bereits mit der Rastertechnik -- und den sie begleitenden technischen Pannen. Als alles scheiterte, brachten sich am 18. Oktober 1977 Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in Stammheim um. Kurz zuvor hatte Franz-Josef Strauß vorgeschlagen, "jede Stunde einen" Gefangenen erschießen zu lassen, bis Schleyer frei sei. Die Wunden des Deutschen Herbstes sind noch nicht geschlossen, auch wenn Pop-Literaten anderes glauben mögen. So gedenken wir der Schills dieses Landes und wünschen den Hamburger Kollegen viel Erfolg. Hal Faber applaudiert Kai Dieckmann? Ja, dieses Land kann einem zum Verzweifeln bringen, man fragt sich, ob man Woody Guthrie noch über den Weg trauen könnte -- aber er meinte auch nicht dieses Land, und seine feine Ironie entgeht vermeintlichen Patrioten vom Schlage eines Schill.
*** Wo bleibt das Positive? Genau: Neben Horst Herold verzweifelte noch ein zweiter Fahnder. Eduard Zimmermann wollte mit seiner Sendung "Aktenzeichen XY... ungelöst" die Bevölkerung in eine groß angelegte Aktion Homeland Security einbinden, wo jeder seinen Nachbarn belauscht. Den Kriminalisten erschien das zu gefährlich, weil Zimmermann auf der Todesliste der RAF stand. Dabei hatte "Ede" die ältere Erfahrung mit seinen Land: Heute vor 35 Jahren wurde die erste Volksfahndung von Aktenzeichen XY ausgelöst. Nach 300 Folgen und 2.500 aufgeklärten Fällen machte Zimmermann Schluss -- nur um im Internet weiter zur Aufmerksamkeit zu rufen.
Was wird.
Rasterfahndung, Überwachungsstaat und die nachbarliche Homeland Security der frühen Jahre bringen mich natürlich zu einer Stadt, die es nicht gibt, mit einem Zeremonie, die man kennen sollte. Der Preis für den Verlust der Privatsphäre heißt Big Brother Award, und er wird in der nächsten Woche in Bielefeld zum dritten Mal verliehen. Selbstverständlich ist das nicht, dass sich jemand ausdauernd um die Bürgerrechte kümmert. Für viele Menschen wird es selbstverständlich, dass sie auf einer Messe ausgefragt werden, für viele wird es selbstverständlich, ihre Kinder wie ihre Autos überwachen zu lassen. Wenn dabei die Kinder mit patentierter Technologie gefesselt werden, gewöhnen sie sich praktischerweise frühzeitig an einen Zustand, in dem es keine Awards mehr gibt.
Schweig still! Fünfter! (Hal Faber) / (jk)