Überwachung und Repression: Aktivisten beklagen "multiple Grundrechtskrise"

Seit fünfundzwanzig Jahren erscheint der Grundrechte-Report. 2021 stand im Zeichen der Klimakrise, der Corona-Pandemie und der Strafrechtsverschärfungen.

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(Bild: Digitalphaser / Shutterstock.com)

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Die Herausgeber und Autoren des Grundrechte-Reports zeigen seit 1997 aktuelle Gefährdungen der Bürgerrechte und zentraler Verfassungsprinzipien auf. Laut dem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht 2022 stand das vorige Jahr unter anderem im Zeichen weiterer strafprozessualer Verschärfungen, die "Grundrechte empfindlich beeinträchtigen".

So habe der Bundestag in der Strafprozessordnung (StPO) die Befugnis eingeführt, von verdeckten Ermittlungen betroffene Personen im Nachhinein nicht mehr über Beschlagnahmen etwa von E-Mails, Chat-Nachrichten und Cloud-Daten zu informieren. Dem diesjährigen Report ist zu entnehmen: "Damit entfällt jede Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle." Parallel "gipfelte die Diskussion über die Wiederaufnahme von Strafverfahren bei neuen Beweisen nach Freisprüchen in einer grundlegenden Gesetzesänderung". Diese stelle einen Bruch mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Mehrfachverfolgung dar.

Mit dem neuen Paragrafen 95a StPO dürfen Ermittler vor allem auf elektronische Beweismittel bei Providern zugreifen. "Auf den ersten Blick erscheint die Regelung als eine bloß unerhebliche Verfahrensänderung", schreiben Sina Ness und Rebecca Militz zu der Reform. "Bei näherer Betrachtung entpuppt sie sich hingegen als neue heimliche Ermittlungsbefugnis, die verfassungsrechtlich alles andere als unbedenklich ist."

So unbemerkt wie die Initiative der damals noch schwarz-roten Bundesregierung Eingang ins Strafverfahrensrecht gefunden habe, könne künftig auch die Beschlagnahme erfolgen, monieren die beiden Autorinnen. Ein in Anspruch genommener Dienstleister dürfe zum Stillschweigen darüber verpflichtet werden, obwohl die StPO "grundsätzlich von der Offenheit des Strafverfahrens" ausgehe. Nur wer von Ermittlungen gegen sich wisse, könne sich auch dagegen verteidigen.

Bei der neuen heimlichen Ermittlungsklausel habe der Gesetzgeber "die aufgrund der erhöhten Grundrechtsrelevanz notwendigen verfahrenssichernden" Bestimmungen nicht ausreichend getroffen, lautet die Kritik. So sei etwa nicht geregelt, wie abgezogene Daten technisch gegen unbefugte Nutzung gesichert werden sollen. Eine spezielle Löschpflicht fehle auch. Dokumentations- und Begründungpflicht blieben eine weitere Leerstelle, genauso wie der Schutz des Kernbereichs der intimen Lebensgestaltung. Der Gesetzgeber müsse daher dringend nachbessern.

Die gleichzeitig durchgeboxte automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung ermögliche es zudem nun der Polizei bundesweit, in Ermittlungsverfahren "massenweise Daten zu erheben und damit in die Grundrechte auch völlig Unbeteiligter einzugreifen", schreibt Peter Stolle. Die Fehlerquote, also die falsch dokumentierten Nummernschilder, lägen laut Untersuchungen bei über 90 Prozent. Der Einsatz der Scanner dürfte zwar auch mit der gesetzlichen Neuregelung auf wenige Fälle begrenzt sein. Trotzdem drohe eine "neue Vorratsdatenspeicherung" mit baldigen Ausweitungen.

Das Gesetz, mit dem alle Geheimdienste von Bund und Ländern die Lizenz zum Einsatz von Staatstrojanern erhalten haben, steht bereits zum zweiten Mal im Rampenlicht. "Unverhältnismäßig tiefe Eingriffe" und eine "Verletzung der Schutzpflicht gegen Sicherheitslücken" beklagen Nora Markard und Hannah Gohlke hier. Die Intimsphäre werde ebenfalls nicht gewahrt. Der Gesetzgeber falle in diesem Sektor als "Wiederholungstäter" auf, sodass wieder einmal das Bundesverfassungsgericht gefordert sei.

Stefan Hügel vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) hinterfragt ferner die zweifelhafte Beschaffung der mächtigen Spähsoftware Pegasus durch hiesige Behörden wie das Bundeskriminalamt. Der dieses Jahr 221 Seiten starke Report dokumentiert generell als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit den Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Das Hauptaugenmerk liegt auf staatlichen Institutionen, von denen den Verfassern zufolge die größten Gefahren für die Grundrechte, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit ausgehen.

Einen Schwerpunkt bilden im Rückblick auf 2021 die Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Diese sei erneut das tagespolitisch beherrschende Thema gewesen, schreiben die Herausgeber. Die Seuche habe "auch unter grundrechtlichen Gesichtspunkten vielfach für Diskussionsbedarf" gesorgt – etwa im Rahmen der noch andauernden Debatte über eine mögliche Impfpflicht oder den Umgang mit Kosten für Schnelltests.

Für vulnerable Gruppen bleibe der Schutz vor Corona prekär. Wie eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung der Pandemie aussehen könne, werde sich wohl erst in den nächsten Jahren zeigen.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung habe mit dem dezidierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts einen juristischen Erfolg errungen, heißt es. Dagegen kritisieren Autoren die in Deutschland entgegen der Aarhus-Konvention unzureichenden Verbandsklagerechte zum Klima- und Umweltschutz. Es bleibe unerlässlich, auch den Protesten für Klimagerechtigkeit ausreichenden grundrechtlichen Schutz zu garantieren. Diese seien verstärkt Ziel staatlicher Repression, in Nordrhein-Westfalen sei sogar die Demonstrationsfreiheit massiv eingeschränkt worden.

Den Fokus legen die Verfasser auch auf rechte Strukturen innerhalb staatlicher Behörden und Institutionen. Betroffen gewesen seien etwa entsprechende Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei, die durch Skandale wie "NSU 2.0" und die Auflösung des Frankfurter SEKs deutlich zutage getreten seien. Insgesamt sei die auch von der Flutkatastrophe im Ahrtal und Einschnitten in die Pressefreiheit geprägte Situation "Ausdruck einer multiplen Grundrechtskrise". Den Band geben zehn deutsche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen heraus, zu denen die Humanistische Union, das FIfF und die Gesellschaft für Freiheitsrechte zählen.

(kbe)