Bundestagsstudie: Grundrechtsschutz stößt mit digitaler Überwachung an Grenzen

Vor allem polizeiliche Beobachtungspraktiken mit Big Data haben laut Forschern das Potenzial, bei Bürgern "auch ein Gefühl der Verunsicherung" auszulösen.

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(Bild: Who is Danny / Shutterstock.com)

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Vor allem komplexe Überwachungstechniken, mit der die Telekommunikation der Bürger ausgespäht wird oder die Methoden der automatisierten Datenauswertung einsetzen, fordern das bestehende Verfassungs-, Eingriffs- und Datenschutzrecht heraus. Zu diesem Schluss kommt das Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Bundestags (TAB) in einer jetzt veröffentlichten Studie zu "Beobachtungstechnologien im Bereich der zivilen Sicherheit".

"Das Grundgesetz schützt die kommunikative Privatheit durch verschiedene Gewährleistungen", erläutern die Forscher. Das Fernmeldegeheimnis hebe den Schutz der Telekommunikation besonders hervor und knüpft staatliche Eingriffe an hohe verfassungsrechtliche Hürden. Noch höhere Anforderungen an staatliche Zugriffe stelle das noch vergleichsweise junge Grundrecht auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen, das persönliche Daten schützt. Das bereits in die Jahre gekommene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das dem Einzelnen die Kontrolle über seine personenbezogenen Daten zusichert, bietet dagegen ein recht niedriges Schutzniveau.

Der abgestufte Ansatz setzt der Analyse zufolge voraus, dass sich die unterschiedlichen Garantien für die Privatsphäre "klar voneinander abgrenzen lassen". Gerade im Kontext moderner Formen der Telekommunikation und der fortschreitenden Digitalisierung bereite dies aber zunehmend Schwierigkeiten.

"So schützt das Fernmeldegeheimnis nach gängiger Doktrin nur die laufende Telekommunikation", bringen die Wissenschaftler ein Beispiel. Eine entsprechende Zuordnung sei für ein Telefongespräch mit Beginn und Ende eines Anrufs einfach durchführbar. Etwa für Online-Post oder Instant-Messaging gelte dies nicht mehr. Das führe etwa dazu, "dass der Inhalt ein und derselben E-Mail mal stärker, mal schwächer vor staatlichen Zugriffen geschützt wird": bei der Übertragung greife das Fernmeldegeheimnis, auf dem Endgerät des Empfängers entweder bei einer Beschlagnahme nur der Anspruch der informationellen Selbstbestimmung oder aber bei einer heimlichen Online-Durchsuchung das Computer-Grundrecht.

Solche Klassifikations- und Bewertungsprobleme werfen für die Technikbeobachter die grundlegende Frage auf, ob der grundrechtliche Schutz der kommunikativen Privatheit gegebenenfalls "neu zu konzipieren wäre, indem nach technisch und sozial anschlussfähigeren und normativ überzeugenderen Kriterien für die Sensibilität digitaler Inhalte gesucht wird". Bislang fehle es dazu aber weitgehend an konzeptionellen Vorarbeiten.

Bei ihrem Ritt durch den Stand aktueller Werkzeuge zur Beobachtung, bei denen es vielfach um Überwachung geht, stellen die Autoren auf 262 Seiten immer wieder fest, dass Technik, Recht und Gesetz nicht mehr recht zusammenpassen und vor allem bei Letzterem ein Update nötig wäre. Wissenslücken müssten etwa bei möglicher Diskriminierung durch Big-Data-basierte, von oft undurchsichtigen Algorithmen getriebener Polizeiarbeit wie "Predictive Policing" ("Vorhersagende Polizeiarbeit") gestopft, die Forschung über Risiken und Nebenwirkungen einschlägiger Datenverarbeitungen sollte deutlich ausgedehnt werden.

Durch den Einsatz von Beobachtungstechniken wie Videokameras, Körperscannern oder luft- und weltraumgestützten Bildgebungsverfahren könnten prinzipiell sämtliche Aufgabenfelder der zivilen Sicherheit profitieren, heißt es in der Untersuchung. Das reiche von der Verkehrsüberwachung und dem Umweltmonitoring über den Brand- und Katastrophenschutz, den Rettungsdienst und den Schutz kritischer Infrastrukturen bis hin zur polizeilichen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Dabei müssten Anwender und Gesetzgeber aber immer den tatsächlichen Sicherheitsnutzen, die Verhältnismäßigkeit sowie unerwünschte Wirkungen und Folgen etwa für die Betroffenen wie Einschüchterungseffekte im Blick halten.

"Im gesellschaftlichen Kontext ist Beobachtung Grundvoraussetzung und Mittel für soziale Kontrolle", halten die Experten fest, ohne dabei Michel Foucault und sein Prinzip des Panoptismus aus dem Werk "Überwachen und Strafen" beim Namen zu nennen. Damit gemeint seien Prozesse und Strukturen, "durch die eine Gesellschaft versucht, bestimmte Normen und ein entsprechendes Verhalten ihrer Mitglieder zu gewährleisten". Beobachtung sei zugleich ambivalent, da sie in Form von Überwachung ungleiche Machtverhältnisse befördern beziehungsweise verfestigen könne. Gerade bei technologischer Unterstützung aus der Distanz wisse der Betroffene nicht mehr, dass er beschattet werde.

Videoüberwachung sei am weitesten verbreitet, nehmen die Verfasser eine Technik selbst ins Visier. Millionen elektronischer Augen seien im öffentlichen Raum etwa im Nahverkehr installiert, meist von privaten Stellen. Die datenschutzrechtlichen Bestimmungen erlaubten auch dort explizit die Übermittlung von Aufnahmen an die Polizei, falls dies für deren Arbeit erforderlich sei. Die kriminalpräventive Wirkung fuße dabei auf dem Effekt der Abschreckung. Bisherige wissenschaftliche Evaluationen zeigten aber teils "widersprüchliche und oft hinter den Erwartungen liegende Ergebnisse". In Umfragen gebe etwa die Hälfte der Bevölkerung an, dass Videobeobachtung ihr Sicherheitsgefühl steigere. Anderen Faktoren wie ausreichende Beleuchtung oder der Anwesenheit von Personal werde aber mehr Bedeutung zugemessen.

Noch mehr Fragen werfe eine Verknüpfung mit biometrischer Gesichtserkennung auf, ist dem Wälzer zu entnehmen. Gerade bei einer Personenfahndung in Echtzeit sei davon auszugehen, "dass eine automatisierte gegenüber der manuellen Sichtung von Videodaten ein ganz anderes Auswertungsinstrument darstelle, das in seiner Eingriffsintensität weit über die konventionelle Videobeobachtung hinausgehen könne". Zudem würden bei einer Erkennungsrate von 90 Prozent bei einem Bahnhof mit täglich 100.000 Passanten zugleich 10.000 Fehlalarme ausgelöst.

"Informationstechnische Beobachtungsverfahren berühren die rechtlich hochgradig sensiblen Felder der grundrechtlichen Privatheitsgarantien" in besonderem Maße, halten die Forscher fest. Die Palette erstrecke sich hier vom klassischen Abhören über die Auswertung von Verbindungs- und Standortdaten, Funkzellenabfrage, Stille SMS bis zur besonders komplexen Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ.

Vor allem das Einbringen von Staatstrojanern für Zugriffe auf IT-Systeme sei brisant. Im Sinne eines Ausgleichs zwischen den Interessen der Ermittler und der IT-Security könnte es hier "ein Ansatz sein, die Nutzung von Softwareschwachstellen mit hohem Gefährdungspotenzial für die IT-Sicherheit per Gesetz auszuschließen".

Überprüft werden müssten Eingriffsrechte zudem bei Beobachtungstechiken mit automatisierter Datenauswertung etwa aus sozialen Medien. Während Polizeigesetze und die Strafprozessordnung vielfach und detailliert regeln, wie Informationen erhoben und gespeichert werden dürfen, gebe es wenige Vorgaben für die folgenden Analyseoptionen. Ferner scheine es plausibel, dass hier "in vielen Anwendungsfällen ein Personenbezug durch Hinzuziehen weiterer Informationen aus öffentlichen und nichtöffentlichen Quellen prinzipiell hergestellt werden könnte". Anonymisierungsvorschriften liefen so ins Leere.

Bei algorithmischen Systemen und solchen mit Künstlicher Intelligenz gäben auch verschiedene Faktoren Grund zur Sorge, dass das Prinzip der Letztverantwortung des Menschen durch solche Beobachtungstechniken trotz ihrer Ausrichtung auf eine Unterstützung von Entscheidungen "zunehmend untergraben werden könnte". Die individuelle Verantwortungszuschreibung sei aber gerade im Sicherheitskontext von essenzieller Bedeutung.

Insgesamt geben die Wissenschaftler zu bedenken, dass vor allem polizeiliche Beobachtungspraktiken das Potenzial haben, bei Bürgern "auch ein Gefühl der Verunsicherung auslösen zu können". Sie raten daher, die Verhältnismäßigkeit polizeilicher Überwachung jeweils unter Betrachtung des Gesamtkontextes aller einschlägiger Maßnahmen zu überprüfen, also eine Art Gesamtrechnung zu erstellen. Durch eine proaktivere Informationspolitik lasse sich ferner die Transparenz auf diesem Feld steigern, ohne die operativen Fähigkeiten der Behörden zu schwächen.

Die Politik sollte zudem immer auch nichttechnische Handlungsmöglichkeiten ins Auge fassen, lautet eine weitere Empfehlung: Diese wirkten zwar oft nur langfristig. Sie könnten aber – im Gegensatz zu Beobachtungstechnologien, die eher der Symptombekämpfung dienen – helfen, Kriminalitätsprobleme ursächlich einzudämmen.

(olb)